Hörbare Gebärden – Der Körper in der Musik
Projekt aus Mitteln des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (in Kooperation mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel)
Ziele
Thema des Projektes ist die Erforschung der gestischen Ausdrucksweise von Musik in ihrer systematischen und historischen Dimension. Untersucht wird, inwieweit verschiedene Diskurse über den Körper nicht nur das ästhetische Musikideal, sondern auch die Beschaffenheit der jeweils komponierten Musik verändert haben, in welcher Weise also der Wandel des Körperbildes auf die mit ihm zusammenhängende Tonsprache Einfluss nahm. Hierbei kommen sowohl musikanalytische wie musikästhetische, aber auch medizinhistorische, emotionspsychologische und nicht zuletzt aufführungspraktische Aspekte zum Tragen.
Einerseits ist die Musikwissenschaft damit auf den Stand jener Debatten um Präsenz und Performativität zu bringen, die nach der Vertreibung des Körpers aus den Geisteswissenschaften im Gefolge des Zweiten Weltkriegs jüngst zu einer Neubewertung der unmittelbar (psycho-)somatischen Dimensionen ästhetischer Erfahrung geführt haben: zur Deutung der "Kommunikation qua Körper" nicht als Lektüre von Zeichen, sondern als mimetische "Ansteckung" (Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 42008, S. 369). Andererseits aber soll es auch darum gehen, historisch frühere Versuche einer beim Körper ansetzenden Deutung der Musik unter der Prämisse anthropologischen Denkens neu zu kontextualisieren und ihren Stellenwert für die jeweils benachbarte Kompositions- und Aufführungspraxis zu erörtern. In den Blick zu nehmen ist vor allem die Ausdruckstheorie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, und zwar vor dem Hintergrund der Frage, inwieweit die damals virulente Auffassung von der manifesten Körperlichkeit musikalischer Kunstwerke im Sinne "hörbarer Geberden" (Friedrich von Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 1884) auf diese Kunstwerke selbst zurückwirkte und welche Konsequenzen sich daraus für die praktische Interpretation bis hin zur Gestik und Schlagtechnik des Dirigenten ergaben.
Das Projekt nimmt sich zum Ziel, die bis heute in der Musikwissenschaft einseitig favorisierten Methoden der Strukturanalyse und Hermeneutik, deren Bezugspunkt zwangsläufig der Notentext bildet, um einen Ansatz zu bereichern, der die klingende Realisierung als akustische ,Gebärde‘ und ihre unmittelbar physiologische Rezeption durch den Hörer nicht etwa als irrationale Phänomene ausblendet, sondern sie zu konzeptualisieren und vor allem auch in historisch variablen Prägungen zu beleuchten versucht. Das sinnlich-körperliche Moment der Musik, sonst kaum für wissenschaftswürdig befunden, kommt zu seinem Recht, aber so, dass es der Geschichte keineswegs enthoben, sondern selbst als Gegenstand geschichtlicher Prozesse transparent gemacht wird.
Mitarbeiter / Teilprojekte
Prof. Dr. Arne Stollberg (Projektleiter)
Wandlungen musikalischer Gesten im späten 18. Jahrhundert (Arbeitstitel)
Im späten 18. Jahrhundert entstand eine Auffassung des Körpers als Medium "natürlichen Ausdrucks", die dem höfischen Gesellschaftsideal noch fremd war, aber bis heute ihre Gültigkeit bewahren konnte. Welche Folgen hatte dies für die Musik? Als Ausgangspunkt der Untersuchung sind die Gattung des Melodrams und andere Spielarten des Musiktheaters (Oper, Ballett) in den Blick zu nehmen, schließlich aber auch Werke der reinen Instrumentalmusik. Methodisch soll in interdisziplinärer Perspektive auf zeitgenössische Quellen zu Schauspielästhetik, Physiognomik und Pathognomik, aber auch auf medizinische Traktate rekurriert werden, um dieses von der Musikwissenschaft kaum je zur Kenntnis genommene Quellenmaterial für die analytische Betrachtung musikalischer Partituren sowie für die Rekonstruktion der an sie geknüpften Aufführungsmodalitäten nutzbar zu machen.
Macht Musik schlau? Podiumsdiskussion bei der Körber-Stiftung, Hamburg, vom 13. November 2017 (mit Jörn-Henrik Jacobsen und Arne Stollberg; Moderation: Nicole Ahles)
Videoaufzeichnung
Jana Weißenfeld M. A.
"Verkörperungen" – Zur Inszenierung der Dirigentenfigur im Konzertfilm (Arbeitstitel)
Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit der Inszenierung von "Körperlichkeit" in Bezug auf die Darstellung des Dirigenten und – im Kontrast dazu – des Orchesters in ausgewählten Konzertfilmen. Die Betrachtung von Verfilmungen musikalischer Werke vor allem aus dem Bereich der Sinfonik des 19. Jahrhunderts soll mit Hilfe des Begriffs der "Verkörperung" in Verbindung mit verschiedenen Konzepten der musikalischen Interpretation unter neuen Gesichtspunkten ein ästhetisches Spannungsfeld behandeln, in welchem sich geschichtlich virulente Oppositionen ergänzen und durchkreuzen: Postulate der "Werktreue" einerseits und konträr eingeforderter Interpreten-Subjektivität andererseits, wie sie sich als scheinbar unvereinbare und doch komplementäre Konzepte in vielen Konzertfilmen auch visuell zu manifestieren scheinen.
Florian Henri Besthorn M. A. (Musikwissenschaftliches Seminar der Universität Basel)
Die Bedeutung des Körpers in den Kompositionen Jörg Widmanns (Arbeitstitel)
Die Werke des jungen deutschen Komponisten Jörg Widmann (*1973) sollen anhand der Behandlung des menschlichen Körpers sowie der Klangkörper im Allgemeinen erforscht werden. Ausgehend von den (musik-)ästhetischen Diskursen der letzten 50 Jahre soll die Bedeutung des Körpers in der Neuen Musik untersucht werden, welche Widmann beispielsweise durch "überdrehte Virtuosität" in Solostücken ad absurdum führt, wobei er stets versucht, physische Grenzen zu überschreiten. Zudem wird auf die Divergenz zwischen musikalischen 'Fremdkörpern' und klingenden 'Geräuschwelten' einzugehen sein.
Publikationen
Im Herbstsemester 2013 fand am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel eine Ringvorlesung zum Thema DirigentenBilder: Musikalische Gesten – verkörperte Musik statt. Der daraus resultierende Sammelband, herausgegeben von Arne Stollberg, Jana Weißenfeld und Florian Henri Besthorn, ist Anfang Dezember 2015 beim Basler Schwabe-Verlag in der Reihe "Resonanzen" erschienen.
Klappentext:
Kommt dem Dirigieren performative Qualität zu? Handelt es sich um einen theatralen Akt, einen 'Tanz am Pult', der selber ästhetischen Wert besitzt und sich nicht auf die Funktion bloßer Zeichengebung für das Orchester reduzieren lässt? Geht es (auch) darum, die unsichtbaren Töne und Tonfolgen durch Gesten sichtbar zu machen, ihnen buchstäblich einen Körper zu leihen? Und in welchem Verhältnis stehen die Gesten wiederum zu jener 'Interpretation', die ihnen als hörbares Resultat entspringt? – Diese und andere Fragen bilden den Fokus des vorliegenden Bandes, der sich dem Phänomen des Dirigierens sowie der Figur des Dirigenten und der Dirigentin vom Mittelalter bis zur heutigen Zeit widmet. Er versammelt historische, systematisch-empirische und kulturwissenschaftliche Beiträge an der Schnittstelle verschiedenster Disziplinen, gebündelt unter der Denkfigur, dass der stumme 'Luftsortierer' nicht nur als 'Regisseur' musikalischer Verläufe fungiert, sondern in gewisser Weise auch als ihr 'Darsteller'.