Humboldt-Universität zu Berlin - Musikwissenschaft

Historische Musikwissenschaft

Das Lehrgebiet Historische Musikwissenschaft steht an der Humboldt-Universität einerseits in einer langen und großen Tradition, andererseits aber auch in der Verpflichtung, diese Tradition kritisch zu reflektieren und neuen Ansätzen Raum zu geben. Wesentlich ist dabei, dass keine bestimmte Methode einseitig den Vorzug erhält, sondern sich die Vielfalt möglicher Perspektiven auf den Gegenstand „Musik“ – ob als Text oder als klingendes Ereignis – in den vielfältigen Forschungsaktivitäten der Mitarbeiter*innen spiegelt, ebenso in den Themen der von ihnen angebotenen Lehrveranstaltungen. Schwerpunktbildungen sind variabel an die individuellen Interessen der im Lehrgebiet tätigen Personen geknüpft und ergänzen sich zu einem Panorama, von dessen Breite die hauseigene Schriftenreihe Klangfiguren. Studien zur Historischen Musikwissenschaft beredtes Zeugnis ablegt.

Als Prämisse gilt, dass das Erleben von Musik dem Verstehen nicht entgegengesetzt ist, sondern durch hermeneutische Exegese und historisch-kulturwissenschaftliche Kontextualisierung des jeweiligen Werkes bereichert wird, wie sich jede Analyse umgekehrt darin zu bewähren hat, dass sie die ästhetische Wahrnehmung zu intensivieren vermag. Im Zusammengreifen beider Faktoren – „Bewegtwerden und intellektuelle Anstrengung“ (Christian Grüny) – ist das Wesen dessen zu verorten, was die Erfahrung von Musik auszeichnet oder idealerweise auszeichnen sollte. Nicht blind zu werden für die rationalen Sinnbezüge und dechiffrierbaren Bedeutungskomponenten eines Notentextes und sich nicht taub oder, besser noch, gefühllos zu machen gegenüber der körperlich-emotionalen Resonanz, die dem Klangerlebnis konstitutiv beigesellt ist, dürfte der Komplexität des ästhetischen Phänomens am ehesten adäquat sein. Oder um es mit den Worten Wolfgang Amadé Mozarts zu sagen (Brief an Abbé Joseph Bullinger vom 7. August 1778): „machen sie ihr möglichstes, daß die Musick bald einen arsch bekommt – denn das ist das nothwendigste; einen kopf hat sie izt – das ist eben das unglück!“ Es braucht Kopf und Arsch gleichermaßen.

Dass den Gegenstand der Historischen Musikwissenschaft in der Regel verschriftlichte musikalische Kunstwerke bilden, ist ein Sachverhalt, der nicht bestritten werden muss, um dennoch einer gewissen Öffnung und Flexibilisierung zu bedürfen. Als ein Beispiel unter vielen sowie als Leuchtturmprojekt des Lehrgebiets sei die Erich Wolfgang Korngold Werkausgabe genannt, die selbstredend die für Hollywood geschriebene Filmmusik des Komponisten – als „funktionale“ Musik – einbegreift und daran innovative Methoden multimedialer Edition entwickelt. Aber auch bei der Oper und im Grunde bei aller Musik gilt, dass performative Aspekte neben der eigentlichen Arbeit mit Textquellen für die Historische Musikwissenschaft erhebliche Relevanz besitzen, etwa hinsichtlich der an Tonaufnahmen vollzogenen Interpretationsforschung. Das eine zu tun, ohne das andere zu lassen, und alle zur Verfügung stehenden Werkzeuge so einzusetzen, dass mit ihnen etwas bislang noch nicht Entdecktes erkennbar gemacht oder eine neue Sichtweise auf Vertrautes hervorgebracht werden kann – dies mag als anspruchsvolle und zugleich pragmatische Zielvorgabe das Forschungsinteresse anleiten, ohne es von vornherein in die Bahnen eines bestimmten „Methodenzwangs“ zu lenken. Das Ziel definiert den Weg.

Bei aller selbstverständlichen Einbeziehung dessen, was die Digital Humanities an neuen Möglichkeiten eröffnen, bleibt das Medium, in dem die Historische Musikwissenschaft agiert, doch primär dasjenige des geschriebenen und gesprochenen Wortes. Erst in der Verbalisierung wird die aus der Analyse oder dem ästhetischen Erleben gewonnene Einsicht mitteilbar. Mehr noch: Das (metaphorische) Sprechen und Schreiben über Musik wirkt auf die Art und Weise zurück, mit der wir Musik wahrnehmen. Freude an der Formulierung und Liebe zur Sprache sollte daher die Liebe zur Musik begleiten und ebenso zum Rüstzeug jeder Forscherin, jedes Forschers gehören wie Sicherheit im Umgang mit Partituren.

Interdisziplinarität und Internationalität werden im Lehrgebiet Historische Musikwissenschaft großgeschrieben. Kooperationen mit Kolleg*innen anderer Fächer sind fester Bestandteil von Forschung und Lehre. Gastwissenschaftler*innen aus dem In- und Ausland, ob als DAAD-Stipendiat*innen oder als Fellows der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, befördern regelmäßig die Attraktivität des Lehrgebiets und erweisen zugleich dessen weltweite Ausstrahlung.

Nicht minder wichtig ist der Brückenschlag in die Praxis: Eine enge Zusammenarbeit verbindet die Historische Musikwissenschaft der HU beispielsweise mit den Berliner Opernhäusern, was durch gemeinsame Seminare, Symposien und Projekte zur Geltung gebracht wird. Für Studierende der Musikwissenschaft bildet die Universität daher keinen Elfenbeinturm, sondern das Sprungbrett in eine vielfältige Berufswelt bei Orchestern, Archiven, Verlagen, Bibliotheken und Museen, im Musiktheater oder im Journalismus. Und sollte die Pflege persönlicher Forschungsakzente, für die schon während des Studiums weitgehende Freiheiten bestehen, das Interesse an einer akademischen Laufbahn wecken, bietet das Lehrgebiet mit seiner breiten Vernetzung im Fach auch diesbezüglich einen guten Ausgangspunkt.