Promotionen (Prof. Dr. Arne Stollberg, Prof. Dr. Jin-Ah Kim)
Prof. Dr. Arne Stollberg
Abgeschlossene Promotionen:
- Florian Henri Besthorn
Echo – Spiegel – Labyrinth. Der musikalische Körper im Werk Jörg Widmanns
(Universität Basel) - Leo Dick
Zwischen Konversation und Urlaut. Sprechauftritt und Ritual im "Composed Theatre"
(Universität Bern / Hochschule der Künste Bern)
Humboldt-Universität zu Berlin
2018
- Janina Müller
Musik im klassischen Film noir
2020
- Jana Weißenfeld
"Verkörperungen" – Die Dirigentenfigur und ihre Inszenierung im Konzertfilm - Rebecca Ariane Schmid
Toward a new Kurt Weill Reception: A Study of Influence in the Music Theater of Marc Blitzstein and Leonard Bernstein
2021
- Meinolf Brüser
Die Trauermotetten Johann Sebastian Bachs
2022
- Richard Kuckhoff
Eine "Idee von romantischer Form". Die Gestaltung ästhetischer Zeit in der Instrumentalmusik Beethovens und Schumanns
2023
- Matthias Rädel
Selbstverständnis und Identität des Opernhauses in Charlottenburg im Laufe seiner Geschichte im kulturellen sowie nationalen Kontext
2024
- Yangke Li
Madrigal outside Italy: A Transcultural and Comparative Research of German and English Madrigal in Renaissance
Laufende Projekte:
- Wolfgang Berthold
"Eigentlich bin ich ein Feind aller Bearbeitungen …" – Die Operettenadaptionen von Erich Wolfgang Korngold - Pedro Gloor Vellasco
Materiale Formenlehre – Modellfall Wolfgang Rihm. Beitrag zur Entwicklung einer Formkonzeption im Anschluss an Theodor W. Adorno - Tim Martin Hoffmann
Die Opern Erich Wolfgang Korngolds. Quellenstudien – Werkanalysen – Historiographie - Thomas König
Ästhetik des Spiels. Paul Bekkers Begriff einer 'Neuen Musik' - Konstantinos Kyrtsis
Building Jerusalem: The impact of World War One on English musicality and musical identity - He Lin
Notationen der klassischen chinesischen Griffbrettzither Qin – Eine vergleichende Studie - Johannes Schröder
Mannheimer Kammermusik? – Die "Mannheimer Schule" jenseits der Sinfonie
Wolfgang Berthold
"Eigentlich bin ich ein Feind aller Bearbeitungen …" – Die Operettenadaptionen von Erich Wolfgang Korngold
Das Interesse an Erich Wolfgang Korngold hat in den letzten zwanzig Jahren enorm zugenommen. War der zuerst als Wunderkind gefeierte und bis 1933 äußerst erfolgreiche Komponist vor dem abrupten Ende seiner Karriere durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in der europäischen Musikszene eine feste Größe, so konnte er nach dem Krieg nicht an den früheren Erfolg anschließen. Als Komponist von Filmmusik in Hollywood hingegen musste seine Karriere keinen solchen Bruch erfahren. Der souveräne Umgang mit den verschiedenen Genres, der Erfolg als zeitgenössischer "klassischer" Komponist in Konzert und Oper einerseits und das ebenso erfolgreiche Wirken als Filmkomponist andererseits sind zentral in Korngolds Biographie. Doch schon vor der Emigration bewegte sich Korngold quasi zwischen den Stühlen: Neben seinen Opern, sinfonischen Werken und Kammermusiken bearbeitete er Operetten von Johann Strauß, Leo Fall und Jacques Offenbach und erwies sich als geschickter musikalischer Mitarbeiter in verschiedenen Operettenproduktionen in Wien und Berlin.
Acht Operettenbearbeitungen fertigte Korngold zwischen 1923 und 1933 für verschiedene Auftraggeber in Wien und Berlin an: nach Johann Strauß' Eine Nacht in Venedig (1923/29), Cagliostro in Wien (1927) und Die Fledermaus (1929), nach Leo Fall Rosen aus Florida (1929) und Die geschiedene Frau (1933), nach Jacques Offenbach Die schöne Helena (1931); Walzer aus Wien (1930) und Das Lied der Liebe (1931) sind Pasticcios mit Musik von Strauß auf eigens neu geschriebene Libretti. Es sind also verschiedene Kategorien der Bearbeitung zu unterscheiden; bei allen zu untersuchen wäre: Wie verhält sich der neue Text zum originalen, wo wurden von welchem Bearbeiter welche Schwerpunkte, dramaturgischen Entscheidungen und Effekte gesucht, wie hat Korngold die Originalpartitur strukturell verändert, die vorhandenen Nummern erweitert, gekürzt etc., welche Nummern hat er neu interpoliert, und auf welche Stücke griff er dabei zurück (denn fast ausschließlich benutzte er für seine Ergänzungen bereits existierende Werke des jeweiligen Komponisten)? Schließlich: Wie hat Korngold die Instrumentierung verändert, wo hat er die Klangsprache des Originals erhalten bzw. stilisiert, wo hat er eine womöglich dem Zeitgeschmack angepasste, modernere Orchestrierung vorgenommen? Und: Wo hat Korngold überhaupt selbst orchestriert, wo haben (wie absolut genreüblich) andere die Orchestrierung vorgenommen?
Die Analyse der Korngold'schen Bearbeitungen kann einen bisher wenig beachteten Aspekt des Operettenbetriebs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beleuchten und damit Erkenntnisse zur Aufführungspraxis der Zeit, zum genretypischen Werkverständnis, zum Ineinandergreifen von konkreter Aufführungssituation, Regie und musikalischer Bearbeitung, aber auch zu ganz pragmatischen Details der Kulturproduktion dieser Epoche liefern – eine Bearbeitung bedeutet nämlich auch eine Verlängerung der urheberrechtlichen Schutzfrist und mag für Verlage nicht zuletzt aus diesem Grund erstrebenswert gewesen sein.
Die Operette stößt in den letzten Jahren auf zunehmendes Interesse: Fast vergessene Werke und Komponisten erobern sich den Spielplan zurück; Musiker*innen und Regisseur*innen versuchen dem modernen, frivolen, geradezu anarchischen Ursprung vieler Werke wieder nahezukommen; die Vielfalt des Genres wird neu entdeckt. Korngolds Bearbeitungen wieder ins Bewusstsein zu holen, kann diese Vielfalt nochmals bereichern – vielleicht findet ja sogar die ein oder andere eines Tages den Weg zurück auf die Bühne.
Pedro Gloor Vellasco
Materiale Formenlehre – Modellfall Wolfgang Rihm. Beitrag zur Entwicklung einer Formkonzeption im Anschluss an Theodor W. Adorno
In seiner einflussreichen Mahler-Monographie von 1960 präsentierte Theodor W. Adorno zum ersten Mal das Konzept einer "materiale[n] Formenlehre der Musik" – eine Formidee, die ermöglichen sollte, "Musik durch Theorie zum Sprechen zu bringen". Tatsächlich haben die materialen Formkategorien – Durchbruch, Suspension, Erfüllung und Zusammenbruch – unersetzliche analytische Werkzeuge für die Mahler-Forschung geliefert, die, wenigstens seit Mitte der 1970er Jahre bis in unsere Zeit hinein, zum "Sprechen" über die und konsequenterweise zum Verstehen der Musik des Böhmischen Komponisten erheblich beigetragen haben. Trotzdem wurde die "materiale Formenlehre" als Formkonzeption in der Musikforschung kaum in Betracht gezogen, und eine materiale Formanalyse außerhalb von Gustav Mahlers Musik ist schlichtweg nicht vorhanden. An diesem Desiderat setzt mein Dissertationsvorhaben an. Nach der systematischen Auseinandersetzung mit Adornos Theorie in meiner Masterarbeit versuche ich jetzt, eine materiale Formanalyse in Werken von Wolfgang Rihm durchzuführen. Das Vorhaben erfolgt in der Überzeugung, dass der Blick auf die physiognomische Anschaulichkeit der musikalischen Ausdrucksgesten, und zwar in ihrer formkonstruktiven Eigenschaft, für die Analyse der Musik eines Komponisten, der gerade aus der Abkehr von jeder Strukturhaftigkeit sein kreatives Potential zu schöpfen scheint, unentbehrlich ist.
Tim Martin Hoffmann
Die Opern Erich Wolfgang Korngolds. Quellenstudien – Werkanalysen – Historiographie
Die Forschung zu Erich Wolfgang Korngold (1897–1957) stellt ein vergleichsweise junges Feld der Musikwissenschaft dar. Die offenkundige Diskrepanz zwischen historischer Bedeutung und historiographischem Stellenwert geht auf die wechselvolle Biographie des Komponisten zwischen Wunderkind-Euphorie und Welterfolg auf der einen, antisemitischer Verfemung und Stigmatisierung auf der anderen Seite zurück. Fanden Korngolds Werke erst posthum ab den 1970er Jahren zunehmend zurück ins Repertoire, gerieten ab den 1990er Jahren im Speziellen Korngolds Opern in den Blick musikwissenschaftlicher Einzelstudien. Dabei lag der Fokus vor allem auf der kulturgeschichtlichen Verortung der jeweiligen Oper in zeitgenössischen Diskursen: Der Ring des Polykrates op. 7 als Reaktion auf Krisenphänomene innerhalb der komischen Oper, Violanta op. 8 als nietzscheanische Renaissanceoper, Die tote Stadt op. 12 im Kontext von Psychoanalyse und historischer Reflexion, Das Wunder der Heliane op. 20 als »Mysterienoper« sowie Die Kathrin op. 28 als Reflex auf zeitgeschichtliche Umwälzungen. Daneben sind die Werke zum Gegenstand übergeordneter Betrachtungen im Hinblick auf Geschlechterbilder und Sexualität sowie auf (proto-)cineastische Elemente geworden. Eine monographische Gesamtdarstellung, die Korngolds fünf Opern als zusammenhängenden gattungsgeschichtlichen Beitrag versteht, fehlt indes. Zugleich steht die philologische Aufarbeitung des Werkkorpus nahezu vollständig aus.
Das 2021 gestartete Editionsprojekt Erich Wolfgang Korngold Werkausgabe erschließt Korngolds Werke derzeit erstmals in ebenjener philologischen Dimension. An diversen Orten weltweit konnten musikalische Quellen ausfindig gemacht werden, die die Genese von Korngolds Opern in ein neues Licht setzen. Über die konkreten editorischen Konsequenzen hinaus lässt der philologische Befund eine Evaluierung der bisherigen Forschungsergebnisse zu und legt neue Aspekte gattungsästhetischer, historiographischer und werkanalytischer Art offen. Vor diesem Hintergrund zielt das mit der Erich Wolfgang Korngold Werkausgabe assoziierte Promotionsprojekt auf eine Gesamtdarstellung des Werkkorpus, in der Quellenstudien mit werkanalytischen und musikhistoriographischen Betrachtungen verzahnt werden. Ein zentrales Augenmerk gilt dabei den gattungsästhetischen Tendenzen, die Korngolds Opern aufgreifen, modifizieren und selbst formieren. Verstehen sich Der Ring des Polykrates und Violanta als historistische Einakter, die bereits aufgrund ihrer gemeinsamen Uraufführung von 1916 zur synoptischen Betrachtung einladen, beschreiten Die tote Stadt und Das Wunder der Heliane unter den Vorzeichen einer dramaturgischen Emanzipation der Kategorien des Traums und des Mirakels den Weg in die formale Dreiteiligkeit. Zu beiden Werkpaaren, demjenigen der 1910er und dem der 1920er Jahre, tritt Ende der 1930er Jahre Die Kathrin hinzu, in der Korngold unter dem Eindruck der Zeitoper sowie seiner beginnenden Arbeit für den Film die Leitlinien der eigenen Opernästhetik noch einmal zu evaluieren scheint.
Thomas König
Ästhetik des Spiels. Paul Bekkers Begriff einer 'Neuen Musik'
Eine der zentralen Denkfiguren des kunstästhetischen Diskurses im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war die des Spiels, konnotiert mit der Gestalt Friedrich Schillers. Noch der zwischen 1910 und 1926 die zeitgenössische Musikpublizistik in Deutschland dominierende Musikkritiker Paul Bekker konstatiert in seinem 1923 gehaltenen Vortrag "Neue Musik": "Jegliche Kunst ist eine Kundgebung des Spieltriebes". Mit einer Selbstverständlichkeit ausgesprochen, als bediente der Redner lediglich einen Topos, erweist sich die Aussage bei genauerem Hinsehen als prekär: Welche Inhalte hat der Zuhörer mitzudenken – nach Schopenhauer, Nietzsche, Husserl und Simmel?
Die Figur des Spiels erscheint bei Bekker kontextualisiert mit dem durch den Autor selbst in den öffentlichen Diskurs eingebrachten Begriff einer 'Neuen Musik'. An der Debatte um diesen umstrittenen Begriff beteiligt sich die Untersuchung allerdings nicht, sondern nähert sich ihm ausschließlich aus der Perspektive des sachkundigen Zeitgenossen Paul Bekker. Seine Sicht, das heißt die in seinen Schriften zwischen 1916 und 1926 veröffentlichte und die weltanschauliche Metamorphose des Protagonisten spiegelnde Meinung gibt die Umrisse der Untersuchung vor. Allein sein Interesse an philosophischen, soziologischen, musiktheoretischen und musikästhetischen Kontexten definiert den Kurs unserer hermeneutischen Bemühungen.
Das multiperspektivische Interesse des Publizisten Bekker koppelt so die definitorische Frage, die auf die Struktur einer 'Neuen Musik' zielen würde, an institutionelle und weltanschauliche Aspekte, in welchen eine 'Neue Musik' gedeihen konnte. Genaugenommen lautet sie nun: Wie war der geistes- und kulturgeschichtliche Kontext beschaffen, in dessen Rahmen eine 'Neue Musik' proklamiert wurde, Komponisten einer 'Neuen Musik' zustrebten? Und: Ist das (vordergründig idealistische) Modell des Spiels zur Kennzeichnung einer 'Neuen Musik' tragfähig?
Die Arbeit will einen Beitrag leisten zu einem differenzierten Bild der kulturgeschichtlich wirksamen Persönlichkeit Paul Bekkers. Darüber hinaus will sie am Beispiel einer die deutsche Kultur nachhaltig prägenden Periode der Neuzeit die Verflechtung von Weltanschauung, Musikpublizistik und endlich der Musik selbst beleuchten.
Konstantinos Kyrtsis
Building Jerusalem: The impact of World War One on English musicality and musical identity
The First World War remains to this day a crucial event in the collective psyche of the British nation, perhaps more so than in that of other European countries on which the Second World War had a far greater impact. The central argument of this dissertation is that the First World War affected English musical creativity and identity in a way that turned English music away from the trends that were prevalent in continental Europe and defined the nineteenth-century incarnation of the English Musical Renaissance, and towards the creation of a truly English musical idiom. In particular, the divergence from mostly Germanic influences in musical performance, reception and education, opened the way towards an increased influence of not only home-grown musical ideas, but also a re-affirmation of aesthetics linked to imperial splendour, Royal and religious rituals and romanticism. This retrogressive tendency was curiously at the same time a sign of progress away from the deeply rooted ideals of the Victorian era. The perception of the war as a kind of ‘mechanised forced modernity’ arguably turned musicians towards a renewed and increased appreciation of romantic elements such as Pastoralism, putting English music in a state of arrested development. Through the stylistic and semiotic analysis of selected works (in particular those of Parry, Elgar, Vaughan Williams, Delius and Holst), as well as the study of the institutional history of music in post-Victorian England, this dissertation investigates how the English national musicality and musical identity was particularly affected by this monumental event.
He Lin
Notationen der klassischen chinesischen Griffbrettzither Qin – Eine vergleichende Studie
Die Qin (oder auch Guqin oder Siebensaitige Qin) weist eine Geschichte von über 3000 Jahren auf. Sie gehörte mit dem chinesischen Schachspiel, der Kalligraphie und der Malerei zu den "vier Künsten" der Gelehrten im alten China. Bis heute gilt die Qin als ein Instrument der Intellektuellen. Im Jahr 2003 nahm die UNESCO die Kunst der Guqin-Musik in die Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit auf.
Die vermutlich älteste überlieferte Qin-Notation war die Wen-Zi-Pu, bei der es sich tatsächlich um einen Text handelt, in dem jede Bewegung der Hände zur Tonerzeugung sowie jede feinste Nuance in ganzen Sätzen beschrieben wurde. Jedoch ist diese Notation zu weitschweifig und daher unökonomisch. So wurde während der Tang-Dynastie (618–907 n. Chr.) die Griffnotation Jian-Zi-Pu (dt.: abgekürzte Notation) speziell für die Qin entwickelt. Sie gehört zu den chinesischen Schriftzeichennotationen. Obwohl die Notenzeichen aus unterschiedlichen Schriftzeichenelementen aufgebaut sind, handelt es sich um keine gebräuchlichen Schriftzeichen mehr, sondern um eine Mischung aus Bestandteilen von Schriftzeichen, die die Körperbewegungen auf dem Instrument darstellen. Die Notenzeichen sind Kombinationen aus charakteristischen Komponenten unterschiedlicher Schriftzeichen, welche die Finger der Anschlags- und Greifhand bestimmen, sowie den Nummern der Saiten und Griffmarken, welche die Stelle des Abgreifens eindeutig bezeichnen. Der Übersetzungsprozess vom graphischen Zeichen zur körperlichen Aktion soll in dieser Arbeit untersucht werden, denn meines Erachtens sind einige der abgekürzten Zeichen aufgrund ihrer bildhaften Gestalt, welche den Handbewegungen des Spielers ähnelt, nicht nur symbolisch, sondern auch ikonisch zu verstehen.
In der Jian-Zi-Pu werden die Tonhöhe und die rhythmischen Angaben nicht gekennzeichnet. So fügten im 19. Jahrhundert einige Musiker auf dem Notenblatt eines in Jian-Zi-Pu notierten Stückes eine andere Schriftzeichennotation, die Gong-Che-Pu, zur Angabe der Tonhöhe und der Rhythmen hinzu. Sie war die meistgebrauchte traditionelle chinesische Notation im 18. und 19. Jahrhundert und weist eine sehr lange Entwicklungsgeschichte (933–1911) auf. Sowohl die Jian-Zi-Pu als auch die Gong-Che-Pu enthalten die chinesische Zahlenschrift, die allerdings jeweils völlig unterschiedliche Funktionen hat. In der Jian-Zi-Pu gibt sie die Saitenzahl und den Fingersatz an, in der Gong-Che-Pu die Tonhöhe. Daher sollte hier untersucht werden, ob sie sich gegenseitig unterstützen oder eher stören. Heutzutage werden stattdessen die Ziffernschrift oder das Fünfliniensystem hinzugefügt, in die viele Musikwerke transkribiert wurden, die früher in chinesischen Schriftzeichennotationen niedergeschrieben waren. Jedoch wurde die Jian-Zi-Pu nie ersetzt. Ihre Unersetzbarkeit steht vermutlich mit der raffinierten Struktur und der Operativität der Notation auf dem Instrument Qin sowie mit der guten Wahrnehmbarkeit der chinesischen Schriftzeichen in engem Zusammenhang. Außerdem ist eine Diskussion über diese modernen Notationsmischungen aus unterschiedlichen Perspektiven notwendig.
Zudem sollen in dieser Arbeit die Problematik der kognitiven Umstellung beim Lesen prinzipiell unterschiedlicher Notationen (wie z. B. Leserichtung, Schrifttyp, Tonsystem etc.), weiterhin die verschiedenen Funktionen derselben sowie schließlich die kulturellen, sozialen und ästhetischen Einflüsse auf die Verwendung und Entwicklung der Notationssysteme untersucht werden.
Johannes Schröder
Mannheimer Kammermusik? – Die "Mannheimer Schule" jenseits der Sinfonie
Obwohl die von Hugo Riemann 1902 propagierte musikhistorische Stellung der sogenannten "Mannheimer Schule" als Vorläufer der "Wiener Klassik" im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend problematisiert und letztlich widerlegt wurde, blieben die Veröffentlichungen Riemanns doch bis heute prägend. So werden die unter dem Begriff "Mannheimer Schule" zusammengefassten Komponisten und Musiker, die zwischen 1743 und 1778 am Hof des Kurfürsten Carl Theodor in Mannheim wirkten, bislang primär für ihr sinfonisches Schaffen gewürdigt. Obwohl dieses zweifellos bedeutend war und aufgrund der Orchesterstärke und ‑qualität der Mannheimer Hofkapelle auf die Zuhörerinnen und Zuhörer sicherlich den nachhaltigsten Eindruck machte, werden bei solcher Verengung des Repertoires weite Teile der höfischen Musikpraxis in Mannheim ausgeschlossen. So war trotz ihres intimeren Aufführungsrahmens auch die "Cabinetmusik" im Alltag bei Hof fest verwurzelt, sie trat lediglich nach außen weniger in Erscheinung, da sie eher zur privaten Unterhaltung des Kurfürsten diente.
Da auf dem Gebiet der Sinfonie trotz persönlicher Eigenheiten der jeweiligen Komponisten grundlegende stilistische Gemeinsamkeiten festgestellt werden konnten, die auf der Orchesterpraxis der Mannheimer Hofkapelle basierten und durch sie an jüngere Komponistengenerationen weitergegeben wurden, ist weiterführend zu untersuchen, inwieweit sich entsprechende Parallelen auch im kammermusikalischen Schaffen der "Mannheimer" finden. Hierfür werden die nicht-orchestralen Werke verschiedener Komponisten analysiert und miteinander verglichen. Dabei wird eine punktgenaue Fokussierung auf 'die Kammermusik' durch eine Fülle verschiedenster Besetzungen, die ihrerseits eigene kompositorische Anforderungen stellen, erschwert. Zusätzlich ist aufgrund zahlreicher Zu- und Abwanderungen eine klare Abgrenzung der als "Mannheimer" zu deklarierenden Komponisten kaum zu leisten, zumal sich viele der erhaltenen Werke nicht klar datieren lassen. Vielmehr wird also die Frage nach stilistischen Gemeinsamkeiten, die sich aus dem gewählten Korpus ergeben, oder möglicherweise gegenüber der Orchestermusik stärker ausgeprägter Individualität untersucht werden. Auch soll eine Einordnung der untersuchten Stücke in den formtheoretischen Kontext der Jahrhundertmitte und ihrer zahlreichen sich wechselseitig bedingenden Strömungen erfolgen.
Darüber hinaus dürfen die gesellschaftlichen Rahmungen und Konnotationen des Repertoires nicht unberücksichtigt bleiben, erfreute sich doch die Musik der Mannheimer Hofkapelle in der zweiten Jahrhunderthälfte auch bei Liebhabern im erstarkenden Bürgertum wachsender Popularität. Es überrascht daher kaum, dass Mannheimer Kompositionen besonders in Paris großen Zuspruch fanden. Die darin anklingende Diskrepanz zwischen dem – trotz aller aufklärerischen Bestrebungen Carl Theodors – höfisch-absolutistischen Entstehungskontext und dem gleichzeitigen Erfolg der Musik im bürgerlichen Konzertsaal eint kammermusikalische Gattungen mit der Sinfonik und führt jenseits ihrer jeweiligen Funktion am kurfürstlichen Hof in Mannheim zu einer übergreifenden Diskussion von Musik als Spiegel wie auch als Akteur gesellschaftlichen Wandels.
Prof. Dr. Jin-Ah Kim
Laufende Projekte:
- Sai Huang
Transfers westlicher Musik nach China und Ausbildung von professionellen Musikerinnen - Aikaterini Giampoura
Edo Lilipoupoli - Ästhetische und soziologische Dimensionen einer pädagogischen Kinderradiosendung - Safa Canalp
Subcultural Transfer - Indie Music in Turkey
Sai Huang
Transfers westlicher Musik nach China und Ausbildung von professionellen Musikerinnen
Die Arbeit beschäftigt sich mit musikalischen Transferprozessen vom Westen nach China. Im Fokus steht die Erörterung der Ausbildungs- und Professionalisierungsprozesse von chinesischen Musikerinnen unter Einfluss des 'Westens'. Methodisch-konzeptionell verfährt die Arbeit historisch. Die für die musikalischen Transferprozesse bedeutsamen Epochen werden dargestellt, von den musikalischen Tätigkeiten der Missionare im 19. Jahrhundert über den Anfang der Mädchenschulbildung am Ende der Qing-Dynastie bis zur tiefgreifenden Änderung des Frauenbildes nach der "Bewegung des vierten Mai" (1919). Daneben werden bedeutsame Tätigkeiten einzelner Musikerinnen dargelegt, wie z. B. ZHOU Xiaoyan, ZHOU Guangren und JIANG Ying. Außerdem wird neben der musikalischen die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Tätigkeiten analysiert. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf die herausragende Rolle der jüdischen Musikerinnen sowie Musiker im Exil von den zwanziger bis zu den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts gerichtet. Als methodische Grundlage dienen Theorien von Susan McClary, Peter J. Martin und Ruth A. Solie.
Aikaterini Giampoura
Edo Lilipoupoli - Ästhetische und soziologische Dimensionen einer pädagogischen Kinderradiosendung
Die Kinderradiosendung Εδώ Λιλιπούπολη (Edo Lilipoupoli, dt. Übersetzung: "Hier Lilipoupolis") wurde in den späten 1970er Jahren in Griechenland ausgestrahlt und zielte darauf ab, die Phantasie der Zuhörer*innen anzuregen und deren Kreativität zu fördern. Die ihr zugrunde liegende pädagogische Konzeption wurde ursprünglich von der amerikanischen Kinderfernsehsendung Sesamstraße inspiriert. Im Unterschied zur Pop-Ästhetik der für Sesamstraße produzierten Lieder gaben die Komponisten von Edo Lilipoupoli allerdings einer freien, experimentell-künstlerischen Musikästhetik den Vorzug. Im Laufe der Zeit wurden zunehmend humoristische Elemente in besonders kunstvoller Weise in die Musik und Prosa dieses hörspielartigen Kinderprogramms integriert und trugen damit entscheidend dazu bei, dass das Kinderprogramm als Ganzes als gesellschaftspolitische bzw. sozialkritische Satire fungierte. Vor allem ihrer satirischen Ausrichtung ist es zu verdanken, dass die ursprüngliche Kinderradiosendung mit der Zeit ein erwachsenes Publikum gewann. Bisweilen bildete sie eine derart dezidiert politische Dimension aus, dass sie sogar im griechischen Parlament diskutiert wurde.
Die vorliegende Dissertation setzt sich zum Ziel, die Kinderradiosendung innerhalb ihres gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontextes einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Musik und Prosa werden auf der Grundlage von Interdisziplinarität, d.h. unter Berücksichtigung musikästhetischer, soziosemiotischer, soziologischer und pädagogischer Aspekte analysiert. Da die in der Sendung zum Einsatz gekommenen Lieder auch heute noch in Griechenland zu hören sind, liegt ein weiterer Fokus des Forschungsinteresses auf der gegenwärtigen Rezeption dieses Materials. Stilistische und ästhetische Kompositionselemente werden in einer vergleichenden Untersuchung mit der aktuellen Produktion von Kindermusik kontrastiert. Dadurch lassen sich weitere Bedeutungsebenen der Musik von Edo Lilipoupoli aufzeigen. Abschließend sei darauf verwiesen, dass die Kompositionsästhetik der Sendung nicht allein pädagogisch ausgerichtet ist, sondern mit einer gewissen Lebensphilosophie und Ideologie in engem Zusammenhang steht.
Safa Canalp
Subcultural Transfer - Indie Music in Turkey
My dissertation focuses on transfer, reception and appropriation processes of indie music in Turkey, and it covers three decades from 1990s to 2010s periodically. The research’s interdisciplinary conception lies in the intersection of music sociology, popular music studies, ethnomusicology, and mid-European scholarship on cultural transfer. Apart from narrating the social/cultural/political history of indie music's emergence and development in the country, the dissertation is intended to develop a theoretically innovative, methodologically convenient and transnationally appropriable notion which is called subcultural transfer. Through differentiating between issues of knowledge accumulation, taste articulation and behavior development with regard to community's identification with indie music, the research tries to raise a scholarly concern over musicologists' theoretical review of cultural sociology material and cultural sociologists' methodological handling of musical phenomena, and it is accordingly aimed to bridge the conceptual gaps between the two disciplines which conventionally trivialize each others' primary contextual concerns.