Humboldt-Universität zu Berlin - Medienwissenschaft

Vortragsthemen

Vorläufige Übersicht über Vortrags-, bzw. Diskussionsthemen

Barry Powell: Das Alphabet in Theorie und Geschichte

Text, Mündlichkeit, Buchstäblichkeit und andere Paradigmata in der Forschung zur griechischen Kultur

Der Vortrag behandelt wichtige Fragen in Bezug auf die Natur und den Ursprung des griechischen Alphabets. Nach allgemeinen Überlegungen über das Wesen von schriftlicher Kommunikation und ihrem Verhältnis zur gesprochenen Sprache wird ein historischer Abriß von den Vorläufern der schriftlichen Kommunikation über die Westsemitische Schrift bis zur Erfindung des griechischen Alphabets den kulturellen Hintergrund dieser revolutionären Erfindung ausleuchten (kulturtechnisch „revolutionär“, weil die Setzung von elementaren Buchstaben für diskrete Vokale offensichtlich nicht zum Zweck kommerzieller oder administrativer, sondern poetischer Notation geschah). Fragen nach dem praktischen Nutzen des Alphabets führen zur Klärung des Verhältnisses zwischen Schrift und mündlicher Welt der frühen Griechen.

Friedrich Kittler: Grammé und gramma, Zahl und Buchstabe

Wolfgang Rösler: Lautes und stilles Lesen im antiken Griechenland

Es dürfte heute weitgehend akzeptiert sein, daß in der Antike nicht ausschließlich laut gelesen wurde (so die lange vorherrschende Auffassung, zu der seinerzeit ein Aufsatz von J. Balogh das Fundament lieferte: „Voces paginarum“, Philologus 82, 1927, S. 84–109. 202–240). Dieser Sicht ist – neben anderen – J. Svenbro in seinem Buch Phrasikleia (1988) entgegengetreten. Svenbro sieht den Übergang zu einer Praxis stillen Lesen unter anderem durch das Geschichtswerk Herodots markiert. In dem Vortrag soll an dieser Stelle der Dialog mit Svenbro aufgenommen und der Stellenwert der griechischen Historiographie des letzten Drittels des 5. Jh. (Herodot, Thukydides) für die Herausbildung einer Praxis stillen Lesens beleuchtet werden.

Joachim Quack: Zum Bild der Hieroglyphenschrift in der Theorie vom griechischen Vokalalphabet

Als Beispiele von Forschungsarbeiten, in denen die Frage nach dem Alphabet und der Leistungsfähigkeit von Schriften diskutiert wird, sollen einige Bücher aus ägyptologischer Perspektive besprochen werden, nämlich E. Havelock, The Literate Revolution in Greece and its cultural Consequences (Princeton 1982); ders., The Muse learns to write (New Haven/London 1986); J. Goody, The Domestication of the Savage Mind (Cambrigde u.a. 1977); B. Powell, Homer and the Origin of the Greek Alphabet (Cambridge u.a. 1991). Havelocks Werke erweisen sich dabei als in wesentlichen Punkten nicht haltbar, auch bei Goody und Powell sind etliche Korrekturen nötig. Generell wird die Leistungsfähigkeit der ägyptischen Schriftsysteme deutlich unterschätzt. Es scheint auch kein Bewußtsein dafür vorhanden zu sein, daß die Ägypter für Alltagsbedürfnisse eine kursive Schriftform hervorgebracht haben, die einerseits hohe Schreibgeschwindigkeiten ermöglichte, andererseits nicht sinnvoll als „piktographisch“ analysiert werden kann. Prinzipiell ist alles, was in ägyptischer Sprache ausgedrückt werden kann, auch schriftlich darstellbar. Eventuelle Beschränkungen dessen, was tatsächlich aufgezeichnet wird, beruhen nicht auf mangelnder Leistungsfähigkeit der Schrift, sondern auf einem gegenüber Griechenland fundamental anderen sozialen Umfeld.

Jesper Svenbro: Le lecteur inspiré. Le Roman d’Ésope, ch. 78–80 (Vortrag auf Englisch)

Sandrina Khaled: Skylla als Rechenaufgabe. Zahlen bei Homer und den Pythagoräern

Der Beitrag untersucht die Genese der Zahl als einem der ersten universalistischen Prinzipien der Wissenschaft. Anhand markanter Beispiele, so etwa des Auftauchens Homers (und Hesiods) im mathematischen Traktat, soll der heterogene Kontext namhaft gemacht werden, aus dem das griechische Konzept der Zahl erwachsen ist. Der Beitrag begreift die Zahl als Produkt von Praktiken verschiedenster Provenienz (Ökonomie, Wissenschaft, Literatur) und skizziert ihren Weg von der gegenständlichen Hilfsmenge (Rechensteine), Eidformel (Tetraktys) bis hin zum naturphilosophischen Universalinstrument. Besonderes Augenmerk gilt dem Erscheinen der Zahl auf dem Schauplatz der Schrift, zumal sie erst von dort aus Wissenschaften Direktiven und Ordnungsmodelle vorgibt.

(Der Beitrag steht im Rahmen einer systematischen Sichtung und Diskursanalyse technischer Literatur.)

Wolfgang Ernst: Homer gramm(at)ophon

Die Ursprünge (Archäologie) der diskreten Zeichen für Konsonanten und Vokale sind umstritten. Eine andere Weise, die Medialität des griechischen Vokalalphabets zu begreifen, ist die, es von seinem Ende her zu entziffern. Dieses Ende liegt einerseits darin, daß die Diskretheit der Buchstaben tatsächlich digital verrechnet wird: im binären Code, der das Alphabet (oder die Schreibmaschinentastatur) nicht nur auf zwei Symbole reduziert, sondern damit auch einen qualitativen Sprung vollzieht: seine Implementierbarkeit als Rechnung, als Mechanisierung des Alphabets in Kopplung mit der Booleschen Aussagenlogik. A. Markov errechnete die Wahrscheinlichkeit von Vokal- auf Konsonantenfolgen in Literatur statistisch; damit liegt binäre Digitalität im Vokalalphabet selbst verborgen. Zum anderen endet das Vokalalphabet, das die Musikalität der gesprochenen oder gesungenen Sprache in die Schrift selbst überträgt, mithin also den Stimmfluß zu übertragen sucht, mit dem Begriff der klanglichen Frequenz, die alle diskreten Symbole unterläuft. Homer grammatophon ist das kulturtechnische Geheimnis seiner Überlieferung im Alphabet; Homer grammophon ist eine technifizierte Weise, die bewußte Wahrnehmungsschwelle (also Lesung) von Schrift selbst akustisch zu unterlaufen. jenseits des Grammophons aber wird auch die akustische Frequenz schon wieder diskret verrechnet. Im griechischen Vokalalphabet liegt also die Bedingung seiner eigenen Überwindung angelegt – ein Modell von Kultur, das zwar noch als Geschichte faßbar, nicht aber mehr auf diesen Begriff zu bringen ist.

Thomas Götselius: Writing at the Speed of Speech. An Archeology of the Roman Hand

The birth of alphabetic writing made it possible to record the sounds of speach—e.g. the poetry of Homer—in an unique way. Among other things, this obviously meant that the function of the author was separated from the function of the scribe in greek culture. By the time of the rise of the Roman empire, however, authors had begun to explore writing as a productive practice in its own right. In the poetry of the late republic, the scene of writing was focused upon for the first time, and hence, the greek distinction between production and storing collapsed. The writer as we know him became visible. Roman metapoetry, however, was nothing but the outcome of a new network of power and technology. Rome, unlike Greece, was an empire, basicly ruled by an easy written latin cursive, wax tablets and a postal system. For this reason, the ability to write by your own hand came to be recognized as a valuable skill among the ruling elite. Schools were set up to train the hands of Rome—and literature testified to their efficacity. But the history of the classical writer came to an end even before it had started. In year 63 B.C., tachygraphy was invented, presumably by Ciceros secretary Tiro. Tachygraphy, unlike alphabetical script, recorded signs for words, not signs for sounds. For the first time ever writing could keep up with the speed of speech. The advanced and powerful technique caused a shift in practice. The culturalization of the hand of the ruling elite slowly came out of fashion when writing once again was left to the scribe. The freed hands was instead trained to perform the gestures of rhetoric or the calculus of roman mathematics. As the many tachygraphic marked texts by early christian authors witness, literature in the first centurys A.D. came to be orally produced. It wasn't until a millennium later that production and storage took place in the same medium again. In the 13-teenth century the invention of word separated script and the easy written gothic cursive made possible for authors to become writers anew. Guido Cavalcante, Dantes colleague, in an exceptional sonnet made clear that poetry comes out of the hand. This notion still prevails today, but it will hardly hold true in the future. The computer aided voice writing of tomorrow will once again speed up writing and separate the function of production from the function of storage. Yet the fate of handwriting should not cause any sorrow. After all the end of writing as we know it does nothing but distantly mirror the birth of alphabetic storage technology.

Ioannis Zannos: Die Neumenschrift des oströmischen Reiches im Kontext der antiken Musiktheorie

Die Neumenschrift des oströmischen Reiches („Byzanz“) wurde aus der Praxis der reinen Vokalmusik des orthodoxen Christentums entwickelt. Ihre Ursprünge liegen einerseits in der „ekphonetischen Notation“ für das Rezitieren heiliger Schriften, andererseits in der antiken sowie hellenistischen Musiktheorie. Als solche stellt die Neumenschrifft eine Brücke zwischen den „thetischen“ schriftbasierten Systemen der Antike und des Westens und den „dynamischen“, mündlichen und aktionsbasierten Systemen des vorderen und mittleren Orients dar. Der vorliegende Beitrag wird die antiken Wurzeln der Neumenschrift erläutern und den Einfluß der Notation auf die Bildung des Musiksystems untersuchen, so wie es sich in Theorie und Praxis niederschlägt.

Ludwig Morenz: Frühe Medienpromotion und frühe Medienkritik im Alten Ägypten, in Mesopotamien und bei Platon

  1. Der Brief und der Indianer, oder: Von der Verlorenheit des Analphabeten in der Welt der Schriftlichkeit
  2. Alte Konzeptionalisierungen der Schriftentstehung, oder: Das Wunder Schrift und seine mythischen Erfinder
    1. Götter (Beispiel Ägypten: Thot)
    2. Kulturheroen (Beispiel Sumer: Enmerkar)
  3. Alte Konzeptionalisierungen der zweiten Revolution der Schriftlichkeit, oder: Literar-anekdotische Begründungen der Niederschrift „schöner Worte“ (= belles lettres) aus der ersten Hälfte des 2. Jt. v. Chr.
    1. Der König als Patron der Verschriftung der „schönen Worte“ (fiktionale Vorhersage des Neferti)
    2. Entstehung der belles lettres aus der Briefkommunikation (Klagen des Oasenmannes)
  4. Schriftskepsis und konservative Kulturkritik
    1. Platons Lob der unmittelbaren Mündlichkeit, insbesondere: Analyse des Theut-Mythos mit ägyptologischer Brille
    2. Tödliche Botschaften, oder: Denunziatorische Briefe
      1. Uria
      2. Bellerophon
      3. Der Ausdruck von Skepsis gegenüber der nicht-unmittelbaren Fernkommunikation als altorientalisches Motiv
  5. Wie alt könnten schriftkritische Stimmen sein? – Hypothesen trotz des Überlieferungszufalls

Joachim Latacz: Zur Stabilisierungsfunktion des Hexameters in der Mündlichkeitsphase der griechischen Überlieferung

Zwischen der ersten und der zweiten Schriftlichkeitsphase der griechischen Kultur (sog. ‚Linear B‘-Silbenschrift bzw. sog. ‚Alphabet‘-Lautschrift) liegen rund 400 Jahre der condicio Graeca oralis. Bei der Weitergabe bereits erworbenen Wissens und Könnens spielt in diesem Zeitraum – neben der selbstverständlichen mündlichen Alltagstradierung – die mündliche Improvisationsdichtung im Medium des Hexameters eine bedeutende Rolle. Nach Jahrzehnten der primär strukturellen Hexameter-Forschung (Höhepunkt: Hermann Fränkels Hexameter-Analyse 1955) hat die Gräzistik in den letzten ca. 20 Jahren erhebliche Fortschritte erzielt in der Erforschung (1) der praktischen Hexameter-Generierung (Edzard Visser 1987/88 und Folgeforschung), (2) des Alters hexametrischer Dichtung bei den Griechen (Geoffrey Horrocks 1980; Martin L. West 1988, u.a.: Hexameter-Dichtung seit mindestens dem 16. Jh. v. Chr. in Gebrauch). Noch nicht systematisch untersucht sind bisher das mutmaßliche Leistungsvermögen und die tatsächlich erbrachten Leistungen des Hexameters im Überlieferungsprozeß. Es werden Indizien für die Annahme vorgelegt, daß der Hexameter als vorschriftlicher Stabilisierungsfaktor wirkte und damit die Tradierung von Grund- und Eckdaten vergangener Faktizität über den schriftlosen Zeitraum hinweg ermöglichte.

Maarten Bullynck: Das Sandbuch des Archimedes

„Der Sand entzieht sich der Zahl“ (Pindar) – Das Jenseits der altgriechischen Berechenbarkeit heißt Sand. Spätestens seit Pindar und Platon gehört Sand als Unbegrenztes und Unermessliches, als ’apeiron, dem Randgebiet des Diskurses. In theoretischer Fehlübertragung wird der Sand dann bei Aristoteles dem Unendlichen schlechthin zugeordnet und zu einem mathematischen Schattendasein der potenziellen Existenz verurteilt. Mittels klug getarnter Verschaltung technischer und geometrischer Methoden überführt aber Archimedes den Sand letztendlich seiner aktualen Berechenbarkeit, und schaltet sich somit selber in die Vorgeschichte universalen Kalküls ein.

Rudolf Wachter: Ein schwarzes Loch der Geschichte: Die Erfindung des griechischen Alphabets

Die Erfindung des griechischen Alphabets ist eine der wichtigsten und folgenreichsten Errungenschaften der westlichen Kulturgeschichte. Deshalb wüssten wir gerne, wann, wo, wie, durch wen und wozu sie geschehen ist. Wir kennen diese Umstände aber nicht. Warum? Und was können wir trotzdem mit einiger Zuversicht aussagen?

Martin Carlé: Archäologie der griechischen Musiknotation

Der Geschichte vom seltenen archäologischen Glück zusammenhängender Funde antiker Musikschriften wird die Archäologie einer weit weniger glücklichen Humanwissenschaft gegenübergestellt. Gefangen im musikalischen Dispositiv tonaler und oktavbezogener Harmonik gelingt es der neuzeitlichen Musikwissenschaft erst in mathematischem Rückgriff auf die Enharmonik des Archytas die alphabetische Vokalnotation der Griechen zu dechiffrieren. In Kohärenz mit der älteren Instumentalnotation schürft diese Entzifferungsrichtung der historischen Entwicklung des klassischen Tonsystems nach, noch über die Pythagoreer hinaus zu Olympos, dem „Archegos der hellenischen und der schönen Musik“ [Aristoxenos]. Es soll gezeigt werden, wie ein in praktischem Medienverbund von Schrift, Zahl und Ton stehendes Wissen um die ‚Stoicheia der Klänge‘ – dem „kleinsten Tonmaß“, der „archè kai métron“ wie sich Aristoteles ausdrückte ausgerechnet mit der Kodierung des Tonsystems im ‚nativen‘ Vokalalphabet ab Aristoxenos systematisch verlieren konnte. Am archäologischen Fluchtpunkt des Vortrags klingt dagegen eine vorschriftliche enharmonische Hypothese zur Stützung des verzaubernden Duals der homerischen Sirenen.