Lokaltermin Sirenen
Vom 1. bis zum 7. April 2004 findet zum Golf von Positano südlich von Neapel eine klangarchäologische Expedition statt. Unter der Federführung zweier medienwissenschaftlicher Lehrstühle der Humboldt-Universität zu Berlin versammelt sich dort eine Gruppe von Forschern zum Versuch, mit Hilfe begründeter Experimentalanordnungen dem Klang der Sirenen auf die Spur zu kommen, die Homer in seiner Odyssee zur Sprache bringt und die seitdem nie verstummt sind – bis hin zur Dialektik der Aufklärung von Horkheimer / Adorno, aber auch Kafkas und Blanchots Schweigen der Sirenen. Andererseits resultierten die Versuche, Stimmen apparativ zu erzeugen, in der von-Helmholtzschen Doppelsirene.
Die Expedition geht der Vermutung nach, daß die Sirenen mehr als ein literarisches Motiv sind und vielmehr so etwas wie den Anfang der Musik in Europa darstellen. Nicht von ungefähr beschreibt Homer mit der exakten Angabe von zwei Sirenen bereits eine Klangfeldquelle. Findet die grammatischce Verwendung des archaischen Dualis bei Homer ihre medientechnische Verwurzelung im enharmonischen Realen des Doppel-Aulos als frühgriechischem Flöteninstrument (Martin Carlé)? „Komm her ...“ – ist die Sirenen-Verlockung eine Spur der Invokationsrhetorik archaischer Chorlieder? Die Sirenen stehen für den reinen Gesang, und stehen von daher nicht nur in lokaler Nähe zum Anfang jener Philosophie des Pythagoras in Unteritalien, die Musik und Mathematik gleichursprünglich dekodierte.
Der Sirenengesang erhebt sich in der Windstille; Odysseus’ Gefährten müssen rudern. Handelt es sich hier um eine akustische Halluzination, wie sie – frei nach Julian Janes – bikameral nur an der Schwelle zur Vokalalphabetisierung (und Homers Epen fallen in diese Zeit) denkbar ist? Horaz schreibt in seiner Ode I,5 An Pyrrha: „Treu wie Gold, so glaubt er heute, / bleibt ihm das geliebte Kind; / doch er hat sein Glück gegründet / nur auf trügerischen Wind.“ Demnach entspricht die Sirene der Flüchtigkeit (Windigkeit) der Vokale.
Homer gab im 12. Gesang seiner Odyssee ein Rätsel auf, als er den Helden am Schiffsmast angebunden und seine Ruderer mit verstopften Ohren am verführerischen Gesang von zwei Sirenen vorbeischiffen ließ. Tatsächlich lassen sich Augen ja leichter verschließen als Ohren; Ohren sind verletzlich, und es gibt kaum so etwas wie das „kalte Ohr“. Mit Gewalt muß Odysseus Wachs an die Ohren seiner Gefährten legen. Nach ersten Erfolgen Edisons, Stimmen und Klang auf Wachswalzen zu bannen, stellt sich die medienarchäologische Frage nach dem Sirenen-Motiv nicht zufällig nach gut 130 Jahren akustischer kultureller Erfahrung mit technisch-akustischen Medien (Phonograph, Grammophon, Radio). Lokaltermin Sirenen: Ausgehend von dem für alle materialistische Medientheorie maßgeblichen Satz Jacques Lacans, daß das Reale (Stimmfrequenz) immer an seinem Ort ist respektive dorthin zurückkehrt, wird die Inselgruppe Li Galli, die als zwei markante Felsen aus dem Meer ragt, als ein solcher (H)Ort des Realen der Sirenen vermutet. Ernle Bradford etwa, so seine Aussage in Reisen mit Homer, glaubte noch 1943 dort Sirenenstimmen zu vernehmen, „seelenlos“. So erinnert die Sirenen, die das Schönste an der menschlichen Stimme zu singen scheinen, an das Unheimliche in der Erfahrung mit technisch eskalierten Medien: daß nämlich unsere eigenen Stimmen vielleicht umgekehrt auch maschinenhaft sind (ein medienakustischer Turing-Test).
Es wird darum gehen, vor Ort überhaupt erst zu lernen, die rechten Fragen zu stellen (sie zu beantworten liegt noch in der Ferne). Zu diesem Zweck der Findung dienen die geplanten Experimentalanordnungen, die vom Gesang zweier Opernsängerinnen (altgriechischer Text der Sirenen-Verlockung an Odysseus) bis hin zu elektro-akustischem Sampling aus der Summe von Bienen, Wellen und Wind vor den Felsen von Li Galli reichen wird (Sound-Beams zur Erprobung von Echo-Effekten etwa).
Die beteiligten Medienarchäologen sind also so etwas wie die „Schliemänner der Meßtechnik“ (Kittler). Es geht also nicht nur um die materielle Erforschung der Kultur (klassische Archäologie), ebensowenig wie die Frage nach dem Klang der Sirenen nur aus Texten zu beantworten ist (Philologie), sondern um eine Art mediale Philologie (frei nach Eduard Gerhard).
Aber auch naturalistische Theorien stehen zur Hand. Die einzigen bekannten Lebewesen, deren Lautäußerungen Homer dazu inspiriert haben könnten, die Sirenen der antiken Mythologie zu erdichten, können die bis ins 20. Jahrhundert am Mittelmeer angesiedelten Mönchsrobben sein, deren hohe, weit in die Ferne tönenden Rufe für Menschen mysteriös und übernatürlich klingen. Insofern ist die Expertise des Tierstimmenforschers Frommolt
Ein Expeditionsbus der Humboldt-Universität fährt von Berlin aus zum Ziel, die anderen Teilnehmer fliegen nach Neapel ein. Die Kerngruppe bildet sich aus: Friedrich Kittler, Professur für Ästhetik und Geschichte der Medien, Humboldt-Universität zu Berlin; Tania Hron, wissenschaftliche Mitarbeiterin ebd.; Wolfgang Ernst, Professor für Medientheorien, ebd.; Martin Carlé, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, ebd.; Peter Weibel, Direktor des Zentrums für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe; Peter Gente, Verleger (Merve-Verlag Berlin); Wolfgang Scherer, Musikredakteur (SWR Studio Freiburg); Christian von Borries, Dirigent und Klangkünstler, Berlin; Anthony Moore, Klangkünstler und Rektor der Kunsthochschule für Medien Köln; die beiden Sängerinnen Louise Schumacher sowie Katie Mullins, Berlin; Karl-Heinz Frommolt, Kustos des Tierstimmenarchivs am Museum für Naturkunde, Berlin.