Humboldt-Universität zu Berlin - Medienwissenschaft

Medien in Sicht

Variante des Bewerbungsvortrags um die Professur Medientheorien an der Humboldt-Universität zu Berlin, 21. Juni 2002

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Ich werde einen medientheoretisch programmatischen Bogen schlagen: von der Suprematie des Blicks über die Zeitempfindlichkeit des Ohrs zum rechnenden Kalkül. Doch vorweg komme ich gleich auf eine Aufgabe des kommenden Lehrstuhls für Medientheorien zu sprechen: Hilfestellung zu leisten, damit nicht alles, was kulturwissenschaftlich in den Blick gerät, auch gleich zum Medium gerinnt. Es gilt also Medien von Nicht-Medien unterscheidbar zu halten. Mir gibt es einen Stich, wenn ich im klassischen Ihne-Bau der hiesigen Universitätsbibliothek zu lesen bekommen, daß ich dort bestellte „Medien“ im Regal abholen kann. Tatsächlich öffnen sich die Bibliotheken zurecht der CD-ROM als Datenträger für Leser, doch verwischt der Neologismus der „Medieneinheit“ gerade die medienarchäologische Differenz zwischen dem reinen Speichermedium Buch und den elektronischen Übertragungsmedien. Medien meinen sowohl physische wie logische Artefakte, doch damit gerinnt nicht schon jede Form der Wirklichkeitserzeugung zu einer medialen Performanz.

 
Medientheorie ist der Ort, Definitionen des Mediums und der Medialität zu reflektieren, konkret die drei kulturgenealogischen Wellen von Symbolerfindung, ihrer mechanischen Reproduzierbarkeit und ihrer mathematisch augmentierten universalen Berechenbarkeit in historischer und theoretischer Breite. Und das nicht, um in Angleichung an die Objekte selbst technoid zu werden und Medientheorie ausschließlich auf Apparate und Signalübertragung zu reduzieren, sondern um die Analyse medialer Übertragungsprozesse - was der Begriff schon nahelegt - um die Dimension einer kulturellen Metaphorologie zu erweitern. Ein riskanter Spagat. Ohne Akzentsetzungen wird das nicht gehen, etwa auf dem, was die Griechen ausdrücklich mechaniké téchne nannten und Hegel in seinen Jenaer Systementwürfen ausdrücklich als die „abstrakte äußere Tätigkeit“ in Raum und Zeit definiert hat. Doch die zu denkende Synthese von Physik und Logik geht über die reine Mechanik hinaus, von deren energetischem Wirkungsbereich sich elektronische Operationen um den Faktor 1016 unterscheiden.
 

Medien kommen durch Theorien in Sicht

Wenn es erlaubt ist, möchte ich Worte Owald Spenglers aufgreifen, um die Ästhetik des medientheoretischen Blicks zu definieren: Es geht sowohl um den „Stoff und das Mittel des <...> Schauens.“ Damit ist Medientheorie als spezifische Form der Schau, des altgriechischen theorein, eingeführt. Ich ziele damit auf einen medienwissenschaftlich reflektierten Begriff der Theorie selbst. Nicht etwa „Medien an sich“, sondern „Medien in Sicht“ (und Medieneinsicht) sind damit gemeint. Wenn wir diesen Begriff einer an sich bereits genuin technischen Operation unterwerfen, nämlich ein für die Erfindung des Buchdrucks charakteristische Spatium einfügen, und zudem noch zwei Buchstaben vertauschen, die dem flüchtigen Blick gleich erscheinen mögen, wird aus „Medientheorien“ flugs „Medien [Leerstelle] theorein.“ Die Medienphilosophin Sybille Krämer setzt die damit angesprochene „Intellektualisierung des Sehvorgangs“ tatsächlich schon mit der Erfindung der Buchstaben selbst an; auch Albrecht Koschorke erinnert: „Einbildungskraft war das der Schrift zuarbeitende subjektive Vermögen, die alphabetisch verzeichneten Analogien in Anschauung zurückzuverwandeln.“ Von einer Medialisierung des theorein im Sinne der Neuzeit möchte ich allerdings erst für die Epoche der beweglichen Letter Gutenbergs sprechen, da erst damit die Kulturtechnik Schrift auch mechanisierbar, identisch reproduzierbar und damit ein wesentliches Kriterium kalkulierbarer Medien erfüllt ist - in Verbindung mit dem aristotelischen Begriff der Mathematik, die nämlich erst durch die Weise ihrer Betrachtung (hä ... theorei) zustandekommt, nicht schon durch die Seinsart ihrer Gegenstände. Wir fassen also einen dynamischen Begriff der Theorie, der zur Medientheorie in dem Moment wird, wo mathematische Dinge nicht als zeitlose platonische Ideen begriffen werden, sondern als historische Aprioris, die operativ und material hergestellt werden und selbst Dinge herzustellen vermögen.
 
Ist Medientheorie überhaupt eine Wissenschaft? Aristoteles beschreibt im ersten Buch der Metaphysik  eine epistéme <...> theoretiké als solche, die das theorein vermag, d. h. auszuschauen nach etwas und dieses im Blick zu behalten. Doch Medien schauen längst auch uns an. Als Sehender stehe ich nicht vor, sondern immer schon im Blickfeld, das mich erfaßt hat, bevor ich selbst sehen kann. Hier liegt nicht nur psychoanalytisch, sondern auch medientheoretisch der ganze Witz von Subjektkontrolle, wie sie Jonathan Crary in Techniques of the Oberserver als Funktion optischer Apparaturen rekonstruiert hat. Platons Schrift Der Staat hat den Diskurs für diese Ästhetik vorgegeben, indem er zwei Mächte voneinander schied: „den Raum des Einsehbaren“ und „den Raum des Sichtbaren“. Kulturhistorisches Bildmedium dieser Theorie ist bekanntlich die religiöse Ikone. In den Worten Gregors von Nyssa: „tò idein en to mè idein“ (das Sehen im Nicht-Sehen), ein ursprüngliches Kennen der physis. Mediatisiert im wohldefinierten Sinne wird Sehen dagegen erst apparativ, am Beispiel jenes Betrachter, der Einsicht in sein Teleskop seinerseits nur mit einem Sehrohr als Peripheriegerät gewinnt.
 
Von hier ein direkter Sprung zu Novalis´ Allgemeinem Brouillon von 1798/99: „Eine sinnlich wahrnehmbare, zur Maschine gewordene Einbildungskraft ist die Welt.“ An einem buchstäblich verstandenen Begriff der Medientheorie setzt also auch der Begriff der augmented reality an, der die elektronische Erweiterung der menschlichen Sinne meint - Datenbrillen etwa, die das Gesehene mit einem Speicher abgleichen und zugleich mit Hintergrundinformationen versehen - optimalerwiese durch Laser direkt auf die Netzhaut. Hier macht es allerdings einen epochalen Unterschied, ob diese Erweiterung analog (also teleskopisch vertraut) oder digital geschieht. Die digitale Augmentierung der Wirklichkeit vermag dieselbe nämlich auf eine nicht-triviale Weise auch umzurechnen. Medientheorie ist damit auf die direkteste Art konfrontiert. Gaston Bachelard beschrieb in diesem Sinne die Natur der wissenschaftlichen Beobachtung: „Die Instrumente <...> sind nichts als vergegenständlichte Theorien. Aus ihnen werden Phänomene entlassen, die überall den Stempel der Theorie tragen.“
 
„Theorie ist, was man nicht sehen kann“, schreibt Hans Blumenberg über die Ästhetik des abendländischen Intellekts. Der medienarchäologische Blick korrespondiert damit als das, was Eduard von Hartmann in seiner Philosophie des Schönen 1887 beschreibt: „Die Anschauung <...> ist gefühllos <...> und insofern völlig kalt.“ Medien reichen nicht zum Sehen; es bedarf auch ihrer Theorie. 1894, mitten in der Epoche der Panoramen, erläuterte der Geologe Albert Heim bezeichnenderweise in einem Vortrag über Sehen und Zeichnen: „Mit dem Sehen allein ist es nicht gethan, unserem Geiste dient das bewusste Sehen“ - nennen wir es Medientheorein. Medialität meint ja, daß menschliches Wirklichkeitsverständnis geprägt ist von den Unterscheidungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen. In einem erweiterten Sinn machen technische Medien Daten, Gegebenheiten sichtbar, indem sie künstliche Welten erst datenförmig erzeugen. Wobei dieser Medienbegriff nicht auf mechanische Apparate reduziert ist; letztlich visualisierten auch Statistiken, etwa August Friedrich Wilhelm Cromes staatsvergleichende Verhältniskarte von 1818, etwas Unsichtbares, weil sie die Vorstellungen von dem überhaupt erst schaffen, was sie zu zeigen vorgeben - Bilder aus Daten.
 
Von hier aus ist es noch nur ein Schritt zu Otto Neurath piktographischer oder besser piktogrammatischer Visualisierung von Zahlenmengen, vor allem aber zum diagrammatic turn auf den Computerbildschirmen, wo Daten in drei- oder n-dimensionalen Tabellen aufbereitet und damit „theoretisch“ überschaubar werden. Auf einem Plakat der deutschen IBM-Tochter Dehomag von 1934 verheißt das Auge Übersicht: Medien in Sicht. Das Medium, das auf den ersten Blick wie die Hausfenster einer Stadt aussieht, ist die Lochkarte zur Datenerfassung operativer Prozesse. Womit angedeutet ist, daß Theorien der Medien vom Sehen aus dem Bereich des Sichtbaren in den Raum der Daten übergehen, so wie Rasterfahndung aktuell auch die klassischen Fahndungsbilder ersetzt. Bilder im digitalen Raum sind Bilder nur noch für menschliche Augen, in ihrer Medialität aber schlichte Funktionen von Daten. Schon 1832 war in diesem Sinne Datenverarbeitung in Sicht, und ich möchte für einmal nicht Charles Babbages programmierbaren mechanischen Rechner, sondern einen Zeitgenossen an der Akademie in St. Petersburg, Semen Karsakof, zitieren, der die praktische Implementierung von Lochkarten in der statistischen Informationsverarbeitung konzipierte - und zwar als Mitarbeiter im russischen Polizeiwesen, unter dem Titel einer "machine intellectuelle" - intelligence service.
 
Einen genuin medialen Blick praktiziert aber nicht nur polizeiliche oder militärische Aufklärung, sondern auch Medienkunst, die damit selbst ein Ort des medientheoretischen Wissens um das Auseinanderdriften des wirklichen Raums der Maschine und der sogenannten virtuellen Räume ist. Überhaupt ist bestimmten medialen Produktionen ein implizites medientheoretisches Wissen im Sinne von Selbstreflexion des Mediums zuzusprechen; Aufgabe einer akademischer Disziplin ist es, diese impliziten Medientheorien explizit zu machen. Schauen wir auf die Praktiken der sogenannten V-js in der Berliner Techno-Szene. Was hier im Club-Kontext etwa von VISOMAT ausprobiert wird, ist gleichzeitig ein Bildlabor für künftige televisuelle Interaktionen mit Anwendung im technisch-ästhetischen Bereich.
 
Schließen wir in einem medienarchäologischen Tigersprung von den Berliner Clubs auf den theatralischen Raum zurück. Zu den Hauptdarstellern in Ernst Kantorowicz´ Monographie von 1957 The King´s two Bodies zählen unter anderem jene maschinenhaftenPuppen verstorbener Monarchen, mannequins genannt, die dem politischen Körper des Königs einen medialen Zweitkörper zur Überbrückung des Machtvakuums bis zur Inthronisation seines Nachfolgers unterschieben. Tatsächlich wurde diese mediale Praxis erst in dem Moment zu einer staatsrechtlichen Fiktion theoretisiert (und in Thomas Hobbes´ Leviathan reflektiert), als Juristen unter Königin Elisabeth I. vor dem Problem standen, die Nachfolge einer kinderlosen Königin, also die staatliche Souveränität schlechthin sicherzustellen. Der Schauplatz solchen Theoretisierens waren bekanntlich nicht nur die Traktate der Juristen, sondern mit Shakespeares Drama Richard II. ebenso die Bühne. Theater ist ein klassische Medium, welches kognitive Konstrukte menschlichen Sinnen medientechnisch zugänglich macht.
 
Eine Medienhistorie kultureller Kommunikation fokussiert die buchstäbliche Theoretizität von Beobachtungsformen und die Medialität ihrer Theorien. Nehmen wir also Platz im altgriechischen Theater. Das Wort theoría ist wie das Wort théatron von theáomai abgeleitet, und das meint: das ans Auge Gerichtete. Theorein meint zunächst den theatralischen Blick, und theatron im engeren Sinne den Zuschauerraum. Mechané ist hier schlicht die Kran-Konstruktion hinter der Bühne, die Götter aus dem Himmel auftauchen läßt. Dieser Raum des Theaters ist also ein Medienverbund aus Blickschneisen, Akustik und Apparaten - und zugleich eine kulturtechnische Einübung der Veräußerlichung der Schrift, die mit ihrer Verinnerlichung als Stimme der Seele einherging. Guido Hiß hinterfragte einmal, ob das Theater vor dem Hintergrund aktueller Theorien überhaupt ein Medium darstellt. Doch schon um 440 v. Chr. war sich Theater als Medium bewußt. Der attische Poet Kallis verfaßte ein Stück unter dem Titel Grammatiké theoría, übersetzt von Jasper Svenbro mit Spectacle de l´alphabet. Diese Aufführung bot die Buchstäblichkeit von Schauspielerrollen, die sonst dissimuliert werden, den Zuschauern (theataí) zur Schau. Nietzsche schreibt in Die Geburt der Tragödie, „dass es im Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab“. In der theatralischen Schau wird die Theorie selbst zum Medium. Das klingt idealistisch, wird von Nietzsche aber als mediales Dispositiv unter Verweis auf die Geometrie der Architektur decouvriert: „In ihren Theatern war es Jedem, bei dem in concentrischen Bogen sich erhebenden Terassenbau des Zuschauerraums, möglich, die gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen.“ Damit ist mediales theorein als genuin politische Kompetenz angesprochen.
 
An dieser Stelle ein Sprung in die Epoche, wo der theaterarchitektonische Blick selbst sinnfällig wird. Auf einem Stich mit dem sprechenden Titel Coup d´oeil du théâtre de Besançon aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts schaut einen das Auge Claude-Nicolas Ledoux direkt an. Der vertraute coup de théatre, also der Moment der unerwarten Wendung im Drama, geht hier über auf den coup d´oeil selbst: "das Auge des Architekten, nicht das des Malers“ (Joachim Krausse). Es geht hier also um das medial reflektierte theorein einer Theaterarchitektur, die nicht nur in Opposition zur Guckkastenbühne des Barock auf das antike Amphitheater zurückgreift, sondern diese Form auch noch mit dem Rund der Pupille selbst zur Deckung bringt: das Theater als Subjekt und Objekt des Blicks. Bühnen- und Zuschauerblick sind hier so kalkuliert aufeinandergefaltet, als ob es schon computer-aided zustandegekommen wäre. Zur Theorie aber wird dieser Blick erst im Licht, das buchstäblich als Strahl durch das in der Architektensprache „Auge“ genannte Oberlicht in der Kuppel einfällt: Theorie ist der Sehstrahl, der Medien erst in ihrer Medialität wahrnehmbar macht, die sich sonst zugunsten ihrer Effekte unsichtbar hält - das, was Boris Groys den „submedialen Raum nennt“.
 
Was Sigfried Giedeon unter dem Titel Mechanization Takes Command  nicht zufällig kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1948 als „anonyme Geschichte“ bezeichnet hat, korrespondiert mit Siegfried Zielinskis Medienarchäologie als Ent-Deckung einer immer noch weitgehend ungeschriebenen Geschichte der Mechanisierung des Blicks selbst. Christoph Ries nannte die Sehenden Maschinen in seiner gleichnamigen Publikation 1916 beim Namen; Bildtelegraphie bedeutete zeitgleich die Dynamisierung zeichenhafter Oberflächen zur medialen Operativität von Signalflüssen. Und ein klassisches Medium akademischer Bilddarstellung, der Diaprojektor, schaffte „nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand“ (Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie). Der Diaprojektor stellt keine Medientheorie, aber so etwas wie ein Theoriemedium dar. Vom Kunsthistoriker Hermann Grimm erstmals in Berlin zu vergleichenden Doppelprojektionen eingesetzt, hat das Skioptikon vor über 100 Jahren einen theorieförmigen Raum überhaupt erst eröffnet: die komparative Formforschung, die Heinrich Wölfflin dann auf die Spitze trieb. Damit noch einmal zurück zum entleerten theatralischen Blick. An die Stelle eines dekonstruktiven Begriffs von blindness and insigh rückt hier ein medientheoretisch analysierbares Dispositiv, das nicht von ungefähr an die technische Positivierung der romantischen Imagination erinnert - das Kino. Nietzsche referiert implizit auf Platons Höhlengleichnis: "Sehen wir", schreibt er, "einmal von dem auf die Oberfläche kommenden und sichtbaren werdenden Charakter des Helden ab - der im Grunde nichts mehr ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d. h. Erscheinung durch und durch - dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben wir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältnis zu einem bekannten optischen hat" (Die Geburt der Tragödie). Die von Guy Deborts diagnostizierte Société du Spectacle der elektronischen Broadcast-Massenmedien gründet also medientheoretisch schon im antiken Theater. Dionysos war dort der Gott der (erotischen) Maskierung. Funktion der Theatermaske war es, die Personen als das, was sie sind, gerade erkennen zu lassen, sie den Augen deutlich zu zeigen - womit wir fast schon bei technischen Interfaces wären. Aber im Fall des Dionysos „maskierte“ die Maske ihn tatsächlich und bereitete durch ein Verkennen seine wahre Offenbarung vor (so vom Althistoriker Vernant medientheoretisch avant la lettre formuliert).
 
Zeitbasierte Medien: Musik als sinnlich wahrnehmbare Medientheorie
 
Gehen wir für einen Moment mit Joseph Vogls These davon aus, daß es keine Medien gibt, nur ein permanentes Medien-Werden. Aber Medien geben: Daten nämlich, sobald sie messend, registrierend, prozessierend und übertragend am Werk sind, als Welterzeugungsorgane. Die Geburtsstunde der Radioteleskopie bedeutete nicht nur die Loslösung von Bildern aus dem All, sondern vor allem die Lösung von Abbildern des Gegenwärtigen; zur Evidenz kommt vielmehr kosmisches Rauschen, die Einschreibung prozeßhafter Informationen aus der Tiefe der Zeit. Hier machen Medien Zeit selbst sichtbar.
 
George Kubler beschreibt in The Shape of Time den nachrichtentheoretischen Anteil am Begriff der kulturellen Tradition. Jeder Empfänger eines Signals kann im Verlauf der Übermittlung selbst zum Sender werden, was Kubler unter den Oberbegriff Schaltung faßt. „Jedes Relais ist die Ursache für eine bestimmte Deformation des ursprünglichen Signals“ - gleich Telegrammen, die auf dem Übermittlungsweg gestört wurden. Hier klingt uns Claude Shannon tausendfach im Ohr. Nehmen wir den nachrichtentheoretischen wie -praktischen Begriff des noise ganz buchstäblich als akustisches Phänomen, sind wir daran erinnert, daß das theorein von Medien nicht im Reich des Sichtbaren oder Anschaulichen verharren darf, auch wenn es topologisch damit verkoppelt ist. Das Geräusch „drängt danach, mit Sichtbarem verknüpft zu werden“, nach räumlicher Lokalisierung von akustischen Quellen, schreibt Thrasybulos Georgiades. Die Echolokation kann dank der Mobilität des scanning, das Abtastens über Ionen-Paare besonders bei Delphinen das Sehen ersetzen. Hier liegt vielleicht die Zukunft akustischer Suchmaschinen als Interface (oder -ear) zum Datenraum des Internet; solche Optionen zu denken, ist Aufgabe von Medientheorie gegenüber  Mediengestaltern. Vor allem aber knüpft daran die Einsicht in die Auflösung raumbezogener kultureller Ordnungs- und kulturwissenschaftlicher Ortungssysteme. Darin liegt eine medienstrukturelle Perspektive: Die zeitbasierten Medien gehen im Unterschied zu klassischen Speichermedien wie Buch und Schallplatte von dynamischen Paradigmen aus. Seit Radio und Fernsehen werden Angebot und Rezeption technisch zeitlich organisiert - allerdings nicht lebenswissenschaftlich, sondern "live". Die Neurobiologie hört nicht auf zu insistieren, daß auch der visuelle Wahrnehmungsapparat auf zeitlichen, nicht simultan-bildlichen Prozessen basiert (und dabei, nebenbei bemerkt, höchst sensibel für die Differenz von Wahrnehmung digitaler oder analoger Sinnesdaten ist). Zeitkritische mediale Operationen wie etwa die musikalischen, aber auch imaging zu reflektieren, ist die Herausforderungen einer prozeßorientierten digitalen Kultur an die Medientheorie.
 
Aufgabe der Philosophen ist es Hegel zufolge, Zeit in Gedanken zu fassen. Heute fassen auch Medien Zeit. Filmbilder sind medial von der Differenz her konstruiert, im Spiel mit dem menschlichen Wahrnehmungsapparat, dessen Nachträglichkeit hinter Bilddifferenzen kognitiv Kontinuität unterstellt. Doch Zeit ist vor allem die kritische Grenze des digitalen Computers, das Zeitgesetz des Rechen- und damit Sagbaren. Hier steht der Quantencomputer, also das Rechnen mit der Zeit der Physik selbst, an.
 
So gilt es also am Ende den Begriff der time-based media zu konkretisieren. Der Soundkünstler Anthony Moore hat einmal eine gewisse Ohrenlosigkeit (die „earless faces“) der vornehmlich visuell orientierten Medien- als Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften beklagt; Ähnliches gilt für Ästhetik und Geschichte der Photographie und für Medien- und Internetdesign. Lassen wir uns also programatisch auf Akustik als Objekt und Subjekt von Medientheorie ein. Auch im akustischen Raum werden wir an die Unhintergehbarkeit von medialer Hardware erinnert. Die Installation Klangfeld von Christina Kubisch stellte 2001 in der "Hörgalerie" der Berliner Parochialkirche die Lautsprechermembran als als Schnittstelle zwischen der elektronischen Welt der Datenspeicher und der akustischen des Hörens aus. Versteckt man sie, erscheinen ihre Klänge als ortlose Illusion; plaziert man die Lautsprecher sichtbar, werden sie unweigerlich optischer Bestandteil der Installation - und damit nicht zwiefach theoretisch einsichtig. Die 8er-Reihung der Lautsprecher erinnerte nämlich an die Bedeutung des diapason in der altgriechischen Musiktheorie: das vollkommene Intervall der Oktave, hier visualisiert und akustisch versinnlicht „zwischen serieller Reihung, absichtsloser Klangfolge und historischer Konnotation“ (Volker Straebel). Alexander Puschkin hat es einmal so formuliert: „Die Töne tötend. Zerlegt´ ich die Musik wie eine Leiche / Und prüfte Harmonie an Algebra.“ Thematisiert eine opto-akustische Konfiguration die eigene Medialität, wird sie zum medientheoretischen Ort. Ich spreche gewissen Musiken (etwa den Fugen Bachs, aber auch der Minimalmusic von Riley, Reich und Glass) die Fakultät zu, die Medialität von Musik zu reflektieren. Doch bedarf es einer Beobachterdifferenz, um diese immediate Selbstreflexion zu explizieren - akademische Medientheorie.
 
Der Medienkünstler Bill Viola hat in seinem frühen Aufsatz Der Klang der Ein-Zeilen-Abtastung daran erinnert, daß die Technik des Fernseh- und Videobilds auf Schallplatte und das Tonband zurückgehen; beide wiederholen sich ständig selbst ununterbrochen im gleichen Frequenzbereich. „Dieser neue allgemeine Zustand des Summens stellt eine bedeutende Verschiebung in unseren kulturell abgeleiteten Denkmodellen dar“ - parallel zur mathematischen Theorie der Information, die nicht von Text und Interpretation, sondern von einer signal-to-noise-ratio aller Kommunikationsakte ausgeht. Diese auch von Max Benses Semiotik vertraute kulturinformatische Ästhetik finden wir in Violas frühem Videoband mit dem treffenden Titel Information (1973) tatsächlich versinnlicht. Vergleich wir damit den Datenschleier im Film The Matrix, wird zugleich die ganze Differenz zwischen analogem Rauschen und digitalem Kode manifest: einmal bloße physikalische Lichtpunkte auf dem Bildschirm, das andere Mal Zahlenreihen. Der Protagonist Neo besucht in einer Szene den Dekodierer, den menschlichen Monitor der Matrix. Scheinbar schaut dieser nur Datenstrings an, doch dann verrät er deren halluzinogene Wirkung: „Ich sehe gar keinen Code mehr. Ich sehe nur noch Blonde, Rote, Brünette.“ So wird das Rauschen der Information im Rausch zum Imaginären. Der ultimativ medientheoretische Blick wäre dementsprechend die kulturtechnische Kompetenz, Bilder aus Daten sehen, oder Information aus Rauschen hören zu können.
 
Doch unsere Epoche nimmt an Videobildern immer noch nicht ihr Wesentliches wahr: ihre Substanz in der Zeit. Diese zu erkennen heißt mithin: mediales theorein. Auch nach über 100 Jahren Film ist die menschliche Medienkultur zwar soweit eskaliert, bewegte Bilder mit physiologischer Selbstverständlichkeit zu prozessieren, nachdem anfangs die Projektion eines einfahrenden Zuges bekanntlich noch einen Schock bedeutete. Doch die einzelnen Frames sind hier immer noch Photos, keine Zeit-Bilder in sich (Giles Deleuze). Die Zeitbasiertheit, die Heterochronie elektronischer Phänomene wird viel deutlicher an Musik, wie sie im besten medienarchäologischen Sinne äußerst asketisch in der minimalistischen Musik der New Yorker siebziger Jahre reflektiert wurde.
 
„Painting is about looking, writing is about speaking and music is about listening. That´s obvious isn´t it? But it isn´t obvious“, schrieb damals der musikalische Minimalist Philip Glass. Hinter dem scheinbaren pictorial turn verbirgt sich nichts anderes als der rechnende Raum, der sich wahlweise in Bildern oder in Tönen menschlichen Sinnen offenbart. Wort, Bild, Ton und Zahl leisten im Koordinatensystem kultureller Bedeutung als Modi Unterschiedliches (Dieter Mersch); sie sind nicht aufeinander reduzierbar und lassen sich nicht auf ein einheitliches mediales Schema zurückführen. Gerade die Künste spielen damit, ein Medium im anderen zu spiegeln. Womit wir nicht nur bei Mashall McLuhan, sondern auch bei Gotthold Ephraim Lessings 1766er Laokoon-Theorem der Zeit- und Raumbasiertheit von Künsten wären, dessen Wiederlesung unter den Bedingungen des Digitalen ansteht.
 
Statt bloßem theorein also auch akoúein: Akustische Wahrnehmung ist eine der physischsten Möglichkeiten, im Medium zu sein - real existierende Medientheorie. Die Minimal Music stellt eine ausdrückliche Verbindung von Mathematik und Schallereignis her, also eine Implementierung von Medientheorie. Deren musikhistorische Urszene ist Terry Rileys Komposition In C von 1964, der damals noch nicht ahnte, daß einmal im Jahr 2002 Friedrich Kittler an der Humboldt-Universität ein Seminar unter dem Titel „Musik Programmieren in C“ anbieten würde (und damit eine Programmiersprache meinte). Beide treffen sich asymptiotisch in Pythagoras. Dieser bestimmten medientheoretischen Lektüre zufolge waren auch die tragenden Begriffe von Ereignis und Serie in der Archäologie des Wissens „Theorieimporte aus einer Musik, deren mathematischen Kalkül der junge Michel Foucault an Pierre Boulez schätzte. So kommen wir auf Medienarchäologie unter verkehrten Vorzeichen zurück. Philip Glass, der sich als Vierzehnjähriger verfrüht für Mathematik und Philosophie an der University von Chicago einschrieb, wurde in jenem Jahr 1937 geboren, als Alan Matthison Turing den Urtext des uns vertrauten Computers schrieb: On computable numbers. Hier kommt zugleich ins Spiel, daß Medientheorien immer schon von der Spur ihrer materiellen Implementierbarkeit charakterisiert sind - und damit auf das Reich dessen verwiesen sind, was Materialität der Kultur heißt. Turings Maschine ist noch deutlich eine abtrahierte Schreibmaschine, und wir alle schreiben heute zumeist an Tastaturen als Eingabemedium des Computers; für die Musik steht dafür analog die Klaviatur (Wolfgang Scherer). Die Orgel jedoch steht - anders als das Klavier - dem Analogen näher als dem Digitalen, dem Stetigen näher als dem Diskreten. In ihr wird etwas versinnlicht, was die Philosophie längst behauptet: Musik ist tönende Zeit, insofern der Ton nur solange besteht, als er wird. Spielen wir daher einen Orgelton an und halten ihn. Wir haben es hier hörbar mit einem medienarchäologischen Dinosaurier zu tun; die altgriechische Hydraulis, so erfahren wir aus Reinhold Hammersteins Werk mit dem schönen Titel Macht und Klang, diente offenbar als akustische Form der Kodierung von Gewalt, konkret als abschreckende Kriegsmaschine. Wichtiger aber ist in unserem Zusammenhang die Differenz von pneumatischer Orgel und Hammerklavier, was eine seltsame medienarchäologische Analogie zur Differenz von Vokal- und Konsonantenalphabet darstellt.  Ein angeschlagener Klavierton verebbt sogleich. "The column of air in the pipe of an organ, however, takes a moment to speak and then sustains itself at an even dynamic“ (Kevin Bowyer). Die Nähe dieses Klangmediums zur mathematisierten minimal music wird in Philip Glass´ Music for Organ von 1974 deutlich; das Stück „Dance 2“ ist mit 24 Minuten und 45 Sekunden so lange wie mein aktueller Vortrag und gibt dessen Zeitbasiertheit als deadline unerbittlich vor.
 
Hier scheiden sich zwei Medientheorien der Kultur: diejenige, welche den Akzent auf Speicherung setzt und die, welche von generativen Algorithmen ausgeht. Die karolingische Musica Enchiriadis bedeutete schon so etwas wie Musiktheorie im Sinne einer Vorschrift für konkretes musikalisches Tun, Hervorbringen von Musik - eine medialetheia besonderer Art. Komponieren ist kein materielles Vollziehen wie in der Malerei, sondern das, was auch in der Informatik Programm heißt. Damit erinnert Medientheorie an eine andere Lesart der rhetorischen Mimesis, die nicht schlichtes Nachahmen im Sinne von Imitation, sondern das koexistente Hervorbringen des Vorbilds meint. Ein Aufgabenfeld von Medientheorie mag also darin liegt, die Algorithmen der Kultur selbst zu entdecken und zu beschreiben - ein Begriff der kulturellen Tradition als zeitverarbeitender Technik, für welche unsere Epoche zeitbasierter Medien selbst sensibilisiert. Seit dem 20. Jahrhundert erleben wir den Aufstieg des Rauschens zum Signal; wenn solche Sequenzen sich von der „Ideologie der Kommunikation“ befreien (Daniel Charles), haben sie nichts Semantisches mehr mitzuteilen, sondern ihre Aussage geschieht im reinen Feld von Zeitlichkeit. Iannis Xenakis trieb die serielle Musik über sich hinaus, indem er unter Rückgriff auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung statistische Häufungen, cumuli, also Wolken aus Klang über uns aufziehen ließ. So wird Musik aus dem Inneren des akustischen Materials als solchem heraus generiert, während Mallarmé mit seinem kühnen Würfelwurf noch im Reich des Symbolischen, nämlich dem buchstäblichen Medium der Literatur auf Papier verbleiben mußte.
 
Daraus folgt die Einsicht, Medien nicht als geschlossene Systeme, als black boxes zu betrachten, sondern ihre Rezeptivität für Geräusche der Umgebung buchstäblich mit einzukalkulieren. Damit würde eine alte gesellschaftswissenschaftliche Forderung medientheoretisch eingelöst. Wir öffnen uns einer Epistemologie, welche die Unordnung selbst kultiviert; das ist die frohe Botschaft der Medientheorie unter hochtechnischen Bedingungen.
 
Wolfgang Ernst