Humboldt-Universität zu Berlin - Medienwissenschaft

Humboldt-Universität zu Berlin | Institut für Musik­wissen­schaft und Medien­wissen­schaft | Medienwissenschaft |  ↳ Medientheorien | Kolloquium | Robert Dennhardt M.A.: Die Flipflop-Legende und das Digitale. Eine Vorgeschichte des Digitalcomputers vom Unterbrecherkontakt zur Röhrenelektronik 1837–1945

Robert Dennhardt M.A.: Die Flipflop-Legende und das Digitale. Eine Vorgeschichte des Digitalcomputers vom Unterbrecherkontakt zur Röhrenelektronik 1837–1945

  • Was Kolloquium „Medien, die wir meinen“
  • Wann 24.10.2007 von 18:00 bis 20:00
  • Wo Sophienstraße 22a, R. 0.01 (Medientheater)
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Die Frau denkt analog, der Mann digital. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Aber ich behaupte es einfach mal. (Vico von Bülow, Schluss der Rede zur Verleihung des 4. Kulturpreises Deutsche Sprache in Kassel am 30.10.2004.) Zwei Fragen stehen im Zentrum folgender Vorgeschichte des elektronischen Digitalcomputers. Die erste lautet: Warum gibt keine einzige Abhandlung zur Genese des elektronischen Digitalcomputers Auskunft über den Zeitraum zwischen 1919 und 1931 im engeren sowie 1941 im weiteren Sinne? Und zweitens: Warum scheint der Begriff des Digitalen und mithin des Digitalcomputers sowohl technisch als auch epistemologisch in Texten zur Kultur- sowie Technik- und Mediengeschichte des Computers derart problematisch? Oder anders formuliert, warum kann das eigentlich Problematische des Digitalbegriffs in diesen Texten nicht ausdrücklich formuliert werden?

Die Hauptrolle einer derartigen Wissensgeschichte des Digitalcomputers müssen die Apparate und Schaltungen spielen. Wie der Titel anzeigt, sind nicht nur jene Schaltungen nebst ihrer Entdecker von Interesse, wie sie in den kanonischen Wissenschafts-, Technik- und Computergeschichten der letzten vierzig Jahre zu finden sind, sondern die unter und zwischen ihnen verschütteten mythenbildenden Artefakte und apparativen Reste. Auf diese Dispositive wird genauso prüfend zu schauen sein wie auf ihre Namen und die sich um sie gruppierenden technischen Begriffe und Termini. Das apparative Zentrum dieser Vorgeschichte des Digitalcomputers soll hierbei nicht der lückenlos und gut dokumentierten Techikgeschichte der elektromechani­schen Relais und ihren Anwendungen entspringen, sondern wird sich nach und nach durch weniger bekannte elektromagnetische Apparate der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sowie kaum rezipierte Dispositive der Elektronenröhre der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts formieren. Im Sinne des sowohl elektrischen als auch kulturtechnischen Paradigmas der Synchronisation repräsentierten zwei Apparate den jeweiligen Ausgangspunkt neuartiger Technologien des Taktens – der Unterbrecherkontakt von 1837 und, nach Erfindung der Trioden-Elektronenröhre 1906, der erste elektronische Taktgeber namens Multivibrator (Rechteckimpuls-Generator) von 1919. Beide stellten in ihrer historischen Abfolge einen epistemologischen Entstehungsherd bezüglich der Genese des Digitalen dar, weil sie jeweils einen technologischen Paradigmenwechsel auslösten – zum einen die Synchronisation von Stimmgabel und elektromagnetischen Feld und zum anderen die Initiation des diskret-elektronischen Taktes. Genau hier schrieb sich eine Urszene der Möglichkeitsbedingungen des Digitalcomputers als apparative Passage vom diskreten Takten und Zählen zum binären Speichern ein. Das Zentrum dieser Urszene bildete eines der gefeierten Dispositive der Technik­geschichte des Digitalcomputers – das so genannte Flipflop, einschließlich seiner mythologischen Vorgängerschaltung Trigger relay (Auslöseschalter) von 1919. Was danach das Digitale an sich sei, unabhängig jedweden technischen für-sich-Seins, soll hier nicht beantwortet werden, wohl aber, wie es zu der ontologisch vermeinten und wissenschaftsgeschichtlich sedimentierten Dichotomie analog-digital kommen konnte. Einen prominenten Vorschlag zur Un­tersuchung dieses Begriffspaares machte beispielsweise der Philosoph Nelson Goodman in seinem Buch Sprache der Kunst von 1976. In dem Kapitel Analog und digital brachte er zum Ausdruck, dass der jeweilige Bedeutungsumfang der Begriffe analog und digital um einiges zu groß sei und deshalb ihr Bedeutungsinhalt zu klein. Um den Bedeutungsumfang zu verringern bzw. den Begriffsinhalt zu vergrößern, sei es notwendig, mannigfache Bedeutungsunschärfen von beiden Begriffen zu lösen und stattdessen ihren Bedeutungsinhalt genauer zu differenzieren. Vor allem aber machte Goodman darauf aufmerksam, dass es einfacher sei, die vermeintlich technologische Differenz analog-digital zu illustrieren als sie zu definieren.