Humboldt-Universität zu Berlin - Musikwissenschaft

Musik in den Niederlanden um 1400

Die Musikwissenschaft sieht sich für die Zeit zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert nach wie vor mit einem historiographischen Problem konfrontiert: Wie erklärt sich die Flut der frankoflämischen Komponisten/-sänger in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wenn für das 14. Jahrhundert nur wenige musiktheoretische und kompositionspraktische Quellen aus diesem Herrschafts- und Sprachraum erschlossen sind? Die Annahme, dass sich die diagnostizierte "Abkehr von der Komplexität" apriorisch in der Kompositionspraxis etabliert habe und die Protagonisten einer Niederländischen Schule voraussetzungslos zur führenden Elite einer gesamteuropäischen Musikkultur avanciert seien, ist einer multiperspektivischen Musikgeschichte kaum angemessen.

Der Versuch einer Grenzziehung zwischen 'französischer' ars nova/ars subtilior, 'italienischem' trecento und der nachfolgenden frankoflämischen Vokalpolyphonie folgt einem historiographischen Modell, das die Ausbildung transnational wirksamer Kompositionstechniken und notationstechnischer Neuerungen im 15. und 16. Jahrhundert auf der Folie einer teleologischen Fortschrittsgeschichte interpretiert. Doch stellt sich die Frage, wie plural die Kompositionspraxis des 14. Jahrhunderts tatsächlich zu fassen ist. Inwieweit kann die 'einfache' Mehrstimmigkeit der ars nova als Voraussetzung eines kunstreicheren Musikstils der ars subtilior gelten? Ist eine daran anknüpfende Klassifikation in periphere und zentrale Repertoires oder Traditionen weiterhin tragfähig? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die künstlerische Ausstattung der Quellen und hatte die ,einfacheʻ Mehrstimmigkeit trotz rückläufiger Überlieferung parallel zur ars-subtilior-Praxis als kompositorischer Normalfall weiterhin Bestand? Sind 'italienischer' Trecento- und 'französischer' Stil tatsächlich so verschieden, wie beispielsweise die divisiones "s[enaria] g[allica]" und "s[enaria] y[tallica]" nach außen tragen sollen, oder sind die Termini vielmehr als Symptom einer kulturellen Identitätskonstruktion zu bewerten? Wie sind sogenannte Mischnotationen in diesen Diskurs einzuordnen und welches Erkenntnispotential halten Handschriften mit sprachlich heterogenen Repertoires bereit, um den historischen Prozesscharakter gegenseitiger Einflussnahmen und Rezeptionsmechanismen zu untersuchen?

Die ein- und mehrstimmigen Kompositionen in niederländischer Sprache vor und um 1400 bilden den Ausgangspunkt, um den historiographischen Schwierigkeiten auf den Grund zu gehen. Dabei gilt es zu beleuchten, ob und wie sich ein spezifisches Identitätsverständnis in den musikalischen Quellen eines territorial zergliederten geographischen Raums manifestieren kann. Wie ist beispielsweise die Konsonanz- und Dissonanzbehandlung in den überlieferten Sätzen einzuordnen? Inwiefern ist der Umgang mit Synkopationen als Indikator für stilistische Rezeptionsmuster tragfähig? Lassen die niederländischen Liedtexte Strukturadaptionen aus anderen Repertoires erkennen? Welche Qualitäten zeichnen die Kompositionen in Strichnotationen aus und in welcher Weise sind diese für den Forschungskomplex von Bedeutung? Über regionale Entwicklungstendenzen hinaus werden in diesem Projekt neue Perspektiven auf eine 'europäische' Musikgeschichte erschlossen und Transfermechanismen nicht allein auf materieller oder personeller Ebene reflektieren, sondern in den Kontext zeitgenössischer musiktheoretischer und ästhetischer Diskurse gestellt.

 

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